100 Jahre Forschung: Wie ticken die Deutschen?
1923 ist das Institut für Sozialforschung gegründet worden
FRANKFURT/MAIN (dpa/vs) - Warum pochen einige Menschen beim Texten auf das Gendersternchen, während es viele andere grundsätzlich ablehnen, oder warum stehen sich Befürworter und Gegner eines Tempolimits auf deutschen Autobahnen sich oftmals so unversöhnlich gegenüber? - Mit solchen und anderen Fragen beschäftigt sich das Frankfurter Institut für Sozialforschung. Im Januar wird das IFS 100 Jahre alt.
Von Sandra Trauner (Text) und Frank Rumpenhorst (Fotos), dpa
Ob es um den Zielkonflikt zwischen Ökonomie und Ökologie geht oder die Grabenkämpfe um das Gendersternchen - das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) will im 100. Jahr seines Bestehens weiter dazu beitragen, dass die Gesellschaft sich selbst besser versteht. Das Institut feiert 2023 seinen Geburtstag mit Veranstaltungen für verschiedene Zielgruppen. Ein großer Festakt mit Prominenz aus Wissenschaft und Politik steht am 23. Januar an.
Frühere Direktoren haben die Messlatte für die Arbeit des Instituts hoch gelegt. Das Haus gegenüber vom Senckenberg-Museum ist untrennbar mit den Namen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer verbunden, aber auch Jürgen Habermas war dem Institut verbunden. Für die Forschungsarbeit heute sei das «Kapital und Hypothek zugleich», sagt der aktuelle Direktor, Stephan Lessenich: «Was das intellektuelle Eigenkapital angeht, haben wir gute Rücklagen.» Die Aufgabe sei aber, die Haltung der Kritischen Theorie zu bewahren, ohne dass der Blick zurück die Sicht auf Neues verbaut: «Wir werden andere Antworten finden müssen.»
Bei der Gründung mit privaten Mitteln 1923 war das IfS «ganz klar ein marxistisches Forschungsinstitut», wie Lessenich erklärt. Noch heute seien zentrale Begriffe des aufgeklärten Marxismus wichtig für die Arbeit des Instituts. «Begriffe wie Krise, Widerstand, Ideologie oder Kritik sind auch heute noch relevant für eine kritische Gesellschaftsanalyse.»
1933 wurde das Institut von der Gestapo geschlossen
Unter Horkheimer formte das Institut das, was als Kritische Theorie bekannt wurde und in der Fremdbeschreibung auch als Frankfurter Schule bezeichnet wurde. Der Marxismus wich einer, so die historische Selbstbeschreibung des IfS, «sozialphilosophisch ausgerichteten Gesellschaftskritik». 1933 schloss die Gestapo das Institut - wegen «staatsfeindlicher Bestrebungen». In Genf und New York führten Exilanten die Arbeit fort. 1949 kehrten die Forscher nach Frankfurt zurück, 1950 wurde das Institut - als private Stiftung mit öffentlichen Mitteln - wiedererrichtet.
In der Nachkriegszeit stand die Frage im Fokus, wie es zur Machtergreifung der Nazis kommen konnte, wie man Demokratie fördern kann und was sie gefährdet. Während der Studentenbewegung geriet Adorno zwischen die Fronten. 1969 provozierten Studentinnen ihn im Hörsaal mit entblößten Brüsten. Das Gerücht, das «Busen-Attentat» habe zu seinem Tod kurz danach geführt, gehörte zu den beliebtesten Anekdoten unter Frankfurter Ex-Studenten. Nach Adorno prägte Ludwig von Friedeburg das IfS, ab 2001 stand Axel Honneth an der Spitze.
Der Begriff des Widerspruchs rückt in den Fokus
Sein Schwerpunktthema waren die «Paradoxien der Moderne», aber nach 20 Jahren soll dieses Leitmotiv im Jubiläumsjahr durch ein neues Forschungsprogramm ersetzt werden, das gerade ausgearbeitet wird. Eine wichtige Rolle werde dabei der Begriff des Widerspruchs spielen, kündigt Lessenich an. Zum einen meint er damit «die knallharten Widersprüche» unserer Gesellschaft, etwa den Zielkonflikt zwischen Ökologie und Ökonomie. Zum anderen meint er auch den Widerspruch in der Gesellschaft, den sie auslösen können. «Je deutlicher die Widersprüche werden, die unserem Gesellschaftsmodell zugrunde liegen, desto wahrscheinlicher wird es, dass Menschen widersprechen.»
Andersherum könne man sich den Widerspruch einzelner Bevölkerungsgruppen ansehen und versuchen aufzudecken, in welchen gesellschaftlichen Widersprüchen sie wurzeln. Als Beispiel nennt Lessenich den Streit um Indianerkostüme, den Protest gegen das Gendersternchen oder die Ablehnung von Flüchtlingen. Die Wissenschaft könne dazu beitragen, «von den Oberflächenphänomen» wegzukommen und «darunter liegende Strukturentwicklungen beleuchten».
«Die Kritische Theorie war nie für den Elfenbeinturm, sondern immer auch ein gesellschaftliches Projekt», betont Lessenich. Soziologie allein als Binnenkommunikation im Wissenschaftsbetrieb hält er für eine «Fehlentwicklung». Adorno hat Radio-Vorlesungen gehalten - Lessenich denkt über Podcasts und Blogs nach. Schließlich habe das Institut, das mit öffentlichem Geld gefördert wird, auch eine Verpflichtung der Öffentlichkeit gegenüber. Das Land Hessen hat 2021 seine Mitfinanzierung um 250.000 Euro auf knapp 900.000 Euro im Jahr angehoben.
«Das Land hat sich für eine signifikante Erhöhung der Grundfinanzierung des Instituts entschieden, weil es gerade jetzt die kritische Gesellschaftswissenschaft braucht, die das bundesweit einzigartige IfS betreibt», sagte Wissenschaftsministerin Angela Dorn (Grüne) der dpa. «Wir brauchen anspruchsvolles sozialwissenschaftliches, geisteswissenschaftliches, philosophisches Denken, das uns hilft, kritisch zu reflektieren.»
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