Was weiß der Vatikan?
Seit 40 Jahren gibt es keine Spur der verschwundenen Emanuela Orlandi
Von Robert Messer, dpa
ROM/VATIKANSTADT (dpa) - Missbrauch, Erpressung, ausländische Geheimdienste oder ein Zusammenhang mit der Mafia und dem Vatikan? Um das rätselhafte Verschwinden der damals 15-jährigen Emanuela Orlandi blühen bis heute Gerüchte. Vor nunmehr 40 Jahren (22.6.1983) verschwand das «Vatican Girl». Emanuelas Vater war ein Angestellter des Vatikan - die Familie lebt seit 100 Jahren in dem kleinsten Staat der Welt und diente nach eigenen Angaben sieben Päpsten - allein deswegen schon war und ist der Fall brisant. Doch vor allem die Umstände ihres Verschwindens schlagen bis heute hohe Wellen.
An einem heißen und schwülen Juniabend des Jahres 1983 verschwand die 15-Jährige spurlos. Nach dem Besuch einer Musikschule in der Altstadt Roms kam sie nicht mehr nach Hause zurück. Von einem Moment auf den anderen geriet eine ganze Familie mitten in einen spektakulären Fall. In den ersten Jahren ging man gar von einer internationalen Verschwörung aus, in dessen Zentrum die Teenagerin stand.
Viele, teils abenteuerliche Theorien ums Verschwinden
Der Fall sorgte nicht nur in Italien für großes Aufsehen. Sogar eine eigene vierteilige Netflix-Serie («Vatican Girl») aus dem Jahr 2022 gibt es. Denn was mit ihr geschah, ist noch immer unklar. Eine Leiche wurde nie gefunden. Seither kursieren viele, teils abenteuerliche Theorien um ihr Verschwinden. Es wurde etwa behauptet, Orlandi sei entführt worden, um den Papst-Attentäter Mehmet Ali Agca freizupressen, oder Geheimdienste wie der KGB oder die CIA seien involviert. Auch von Vertuschung von Missbrauch durch einen Kurienbeamten oder die Entführung durch die Mafia war die Rede.
Immer wieder kamen neue angebliche Hinweise über ihr Verschwinden auf. Gräber, unter anderem auf dem deutschen Friedhof in Rom (Campo Santo Teutonico), wurden geöffnet. Auch im Ausland wurde nach ihr gesucht. Man fand nichts und niemanden. Und im Mai des laufenden Jahres meldete sich ein Ex-Carabiniere zu Wort und behauptete, Emanuela sei unter der Engelsburg in Rom vergraben.
Seit dem Verschwinden kämpft vor allem ihr nun über 60 Jahre alter Bruder Pietro für Aufklärung - an seiner Seite die Anwältin Laura Sgrò. Nach etlichen Versuchen der Aufklärung sind nicht nur sie davon überzeugt, dass der Vatikan weiß, was mit Emanuela passiert ist.
Drei Päpste gab es seit 1983: Johannes Paul II., Benedikt XVI. und heute Franziskus. Ihre Worte gaben teils Grund zu Spekulationen, der Heilige Stuhl wisse etwas. So etwa Franziskus' Äußerungen gegenüber Bruder Pietro, der sagte: «Emanuela ist im Himmel», obwohl nie eine Leiche gefunden wurde.
Vatikan hat offizielle Ermittlungen eingeleitet
Kürzlich kam überraschend Bewegung in den Fall. Im Januar hatte der Kirchenstaat erstmals offizielle Ermittlungen eingeleitet. Die vatikanischen Strafverfolger unter Alessandro Diddi wollen den Hinweisen nachgehen, wonach das «Vatican Girl» entführt oder ermordet wurde. «Ich bin überzeugt, dass es im Vatikan viele Leute gibt, auch solche in hohen Positionen, die wissen, was damals passiert ist», sagte Pietro Orlandi damals. Auch in Italien wird eine parlamentarische Untersuchungskommission geplant.
Es sei Papst Franziskus' «eiserner Wille», den Fall «vorbehaltlos zu klären» und Licht ins Dunkel zu bringen, sagte Diddi dem «Corriere della Sera». Im Mai entschied auch die Staatsanwaltschaft in Rom, sich der Sache nach bereits zwei Untersuchungen (1983 bis 1997, 2008 bis 2015) anzunehmen. Beobachter spekulieren, dass der Pontifex Druck gemacht haben dürfte - laut Diddi will dieser «absolute Transparenz».
Denn auch nach fast einem halben Jahrhundert wartet eine ganze Familie auf Aufklärung. Emanuelas 93-jährige Mutter lebt einem Bericht des «Corriere della Sera» zufolge noch immer im Vatikan. Wie Anwältin Sgrò bei einer Anhörung sagte, ließ die Mutter lange Zeit den Schlüssel in der Tür ihrer Wohnung stecken - in der Hoffnung, ihre Tochter komme wieder. «Emanuela hat eine Mutter, einen Bruder, drei Schwestern, zehn Neffen und Nichten, die auf sie warten.»
Gerüchte und Kontroversen
Der Fall ist nicht frei von Kontroversen. Im April spielte Pietro während einer Anhörung mit vatikanischen Staatsanwälten ein Tonband ab, das ein angebliches Gespräch zwischen einem Journalisten und dem Chef einer kriminellen Organisation in Rom enthält. In der Aufnahme deutete der Boss an, der 2005 gestorbene Johannes Paul II. sei nachts mit hochrangigen Geistlichen außerhalb der Vatikanmauern unterwegs gewesen.
Ein Teil der Aufnahme wurde in einer italienischen Fernsehshow mit Orlandi ausgestrahlt. Er sagte im TV, er habe gehört, dass Karol Wojtyła (Johannes Paul) damals immer mal wieder mit zwei Freunden, zwei polnischen Priestern, ausgegangen sei und das sicher nicht, um «die Häuser zu segnen». Seine Äußerungen lösten einen Sturm der Entrüstung aus - sogar Papst Franziskus verteidigte seinen Vorvorgänger gegen «beleidigende und unbegründete Unterstellungen».
«Die Zeit ist der Feind der Wahrheit»
Die Hoffnung auf Aufklärung rücke jedoch von Jahr zu Jahr in die Ferne, sagte Sgrò ebenso im Fernsehen. «Die Zeit ist der Feind der Wahrheit.» Doch weder sie noch Pietro wollen die Hoffnung aufgeben: «Ich bin ehrlich, ich hätte nie gedacht, dass 40 Jahre ohne die Wahrheit vergehen würden, aber wir werden sie immer einfordern!», schrieb Pietro kürzlich bei Instagram.
Seit Jahren organisiert er zum Gedenken an Emanuela Sit-ins - meist auf dem Petersplatz. Das nächste Sit-in ist kurz nach dem Jahrestag geplant. Am 25. Juni, einem Sonntag, an dem der Papst sein Angelus-Gebet spricht, will Pietro an seine Schwester erinnern. In seiner Ankündigung schreibt er, er sei sich sicher, dass der Pontifex es nicht versäumen werde, an Emanuela zu erinnern - und an die Notwendigkeit, nach 40 Jahren Wahrheit und Gerechtigkeit zu finden.
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