Kehrtwende Verteidigungspollitik
CDU will Wehrpflicht schrittweise wieder einführen
BERLIN (dpa) - Angesichts einer neuen Bedrohungslage in Europa und der Personalnot der Bundeswehr macht die CDU eine Kehrtwende bei der in ihrer Regierungszeit beschlossenen Aussetzung der Wehrpflicht.
Diese soll schrittweise wieder aufgehoben werden, wie der CDU-Bundesparteitag in Berlin entschied. In das neue Grundsatzprogramm wurde dieser Passus aufgenommen: «Wir werden die Aussetzung der Wehrpflicht schrittweise zurücknehmen und die Wehrpflicht in ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr überführen. Bis zu dieser Umsetzung fordern wir zur Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr die Einführung einer Kontingentwehrpflicht.»
Andere, im Vorhinein als kritisch angesehene Passagen des Grundsatzprogramms blieben in den Beratungen unbeanstandet. So beschloss der Parteitag ohne Diskussion den Passus zum Islam: «Muslime, die unsere Werte teilen, sind Teil der religiösen Vielfalt Deutschlands und unserer Gesellschaft», heißt es nun im Programm.
Und: «Ein Islam, der unsere Werte nicht teilt und unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnt, gehört nicht zu Deutschland.» Keine Diskussion gab es auch zu den Passagen über eine «Leitkultur». Dazu zählt die CDU die Grund- und Menschenrechte, Respekt und Toleranz, Kenntnisse der Sprache und Geschichte, das Anerkennen des Existenzrechts Israels. Nur wer sich zur Leitkultur bekenne, könne Deutscher werden.
Zum knapp 70 Seiten langen Entwurf des Grundsatzprogramms lagen den 1001 Delegierten 2120 Änderungsanträge vor. Es ist das erste Grundsatzprogramm nach 17 Jahren. Mit seiner Verabschiedung will die CDU ihre inhaltliche Erneuerung nach der schweren Niederlage bei der Bundestagswahl 2021 abschließen.
Wehrpflicht und Pflicht-Gesellschaftsjahr
Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr hatte bereits der CDU-Parteitag vor zwei Jahren in Hannover beschlossen. Im Entwurf des Grundsatzprogramms hieß es zunächst: «Um den Personal- und Kompetenzbedarf der Streitkräfte langfristig zu sichern, darf es auch nach der Aussetzung der Wehrpflicht keine Denkverbote für die Zukunft geben. Das Konzept eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres soll auch den Streitkräften unseres Landes zugutekommen.»
Unter anderem die Junge Union brachte aber einen Änderungsantrag für eine Wehrpflicht ein. «Wir leben in einem Land, dass sich im Notfall nicht gegen Aggression von außen verteidigen kann», sagte JU-Chef Johannes Winkel. Dies sei ein unhaltbarer Zustand. «Wir dürfen die Verteidigung unserer Demokratie nicht weiter dem Prinzip Hoffnung überlassen.» Für ein Signal zur Wiedereinführung der Wehrpflicht warb auch der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther (CDU). Dies wäre auch «ein sichtbares Zeichen an Russland» und andere, dass Deutschland zur Verteidigung des Landes bereit sei.
Die Antragskommission legte nach mehreren Wortmeldungen eine geänderte Formulierung vor, die mit großer Mehrheit angekommen wurde. Bei der Kontingentwehrpflicht sollen Fachleute der Bundeswehr jeweils festlegen, wie hoch der Personalbedarf für ein Jahr ist. Nur wer zur Deckung des Personalbedarfs gebraucht werde, werde dann auch eingezogen, erläuterte JU-Chef Winkel.
Die Wehrpflicht war in Deutschland 2011 nach 55 Jahren unter dem damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) ausgesetzt worden. Das kam in der Praxis einer Abschaffung von Wehr- und Zivildienst gleich. Gleichzeitig wurden praktisch alle nötigen Strukturen für eine Wehrpflicht wie Kreiswehrersatzämter aufgelöst. Gesetzlich festgelegt ist aber weiter, dass die Wehrpflicht für Männer im Spannungs- und Verteidigungsfall wieder aufleben soll.
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) lässt derzeit wegen der veränderten Sicherheitslage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine Modelle einer Dienstpflicht prüfen, darunter das schwedische Wehrpflichtmodell. Dort werden alle jungen Frauen und Männer gemustert, aber nur ein Teil leistet Grundwehrdienst.
Söder sieht Merz bei K-Frage in Favoritenrolle
Für eine Rückkehr zur Wehrpflicht sprach sich in der Vergangenheit auch CSU-Chef Markus Söder aus, der am Nachmittag beim Parteitag erwartet wurde. Er machte davor deutlich, dass er weiterhin CDU-Chef Friedrich Merz in der unionsinternen Kanzlerkandidatenfrage in der Favoritenrolle sieht. «Natürlich ist ein CDU-Vorsitzender immer der Favorit», sagte er dem Bayerischen Rundfunk. Merz war am Montag vom Parteitag mit annähernd 90 Prozent als CDU-Vorsitzender bestätigt worden. «Wir werden auf jeden Fall zusammen eine gute Lösung finden. Da darf sich jeder darauf verlassen», betonte Söder.
Sein Auftritt beim CDU-Parteitag am Nachmittag wurde mit Spannung erwartet. Zuletzt hatte sich der bayerische Ministerpräsident mit einer klaren Absage an Bündnisse mit den Grünen im Bund und massiver Kritik an der CDU-geführten Berliner Landesregierung in der großen Schwesterpartei nicht nur Freunde gemacht.
Trotz seiner Äußerung über die Favoritenrolle von Merz bei der Frage der Kanzlerkandidatur könnte dieses Thema im Herbst erneut aufflammen. Dies wird in der Union nicht ausgeschlossen, falls die Europawahl am 9. Juni und die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September nicht die erhofften Ergebnisse bringen - und falls die persönlichen Umfragewerte von Merz weiter deutlich hinter denen von Söder oder NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) zurückbleiben sollten.
Merz will mit neuem Programm Wechselwähler erreichen
Laut Merz will die CDU mit ihrem neuen Grundsatzprogramm vor allem Wechselwähler von sich überzeugen. «Wir müssen über unsere eigenen Mitglieder hinaus, auch über unsere festen Wählerinnen und Wähler hinaus diejenigen erreichen, und deren Zahl wird größer, die bei allen Wahlen neu entscheiden, wen sie wählen sollen», sagte der Parteichef zum Auftakt der Programmberatungen. «An die ist dieses Grundsatzprogramm in ganz besonderer Weise gerichtet.»
Daneben habe das Programm auch die Funktion einer «Selbstvergewisserung einer Partei nach innen», sagte Merz. «Wir müssen von uns selber wissen, wer wir sind, wo wir stehen, was wir wollen. Das ist uns gelungen.» Das Programm solle daneben ein «kraftvolles Zeichen und Signal nach außen» sein. «Es gibt Orientierung, es gibt Halt, es gibt den Menschen auch Zuversicht in unsicherer Zeit.» Dies sei die wichtigste Aufgabe der Union.
Von Ulrich Steinkohl, Jörg Blank, Marco Hadem und Sascha Meyer, dpa
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