Von Spanischer Grippe bis COVID-19
Historischer Vergleich: Corona senkt die Lebenserwartung!

Aufnahme eines Lazarettes während der Spanischen Gruppe in Europa.  | Foto: © Rawpixel.com/stock.adobe.com
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ROSTOCK (pm/nf) - Weltweit hat sich im vergangenen Jahr die Perioden-Lebenserwartung nach dem Sterblichkeitsschock durch die Pandemie 2020 nicht wieder erholt. Gleichzeitig werden die Unterschiede zwischen den Ländern größer. Ein historischer Datenvergleich gibt allerdings Anlass zur Hoffnung auf schnelle Besserung. Das sind die Ergebnisse einer neuen Studie des MPIDR-Forschers Jonas Schöley und Kollegen des Leverhulme Centre for Demographic Science der Universität Oxford, die Änderungen in der Perioden-Lebenserwartung für 29 Länder untersucht hat und in „Nature Human Behaviour“ veröffentlicht wurde.

In den meisten Ländern der Studie, zu denen 27 europäische Länder, die USA sowie Chile zählen, sank im zweiten Jahr in Folge die Perioden-Lebenserwartung. „Ein besonders tragisches Beispiel sind die USA: dem Land ist es zwar 2021 gelungen, die Sterblichkeit der über 80-Jährigen auf das Niveau vor der Pandemie zu normalisieren, allerdings stieg die Sterblichkeit bei den Jüngeren“, sagt Jonas Schöley, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock. Dadurch sank die Perioden-Lebenserwartung in den USA ein zweites Jahr in Folge um weitere 2,7 Monate.

Nur in einigen Ländern in Westeuropa stieg die Perioden-Lebenserwartung wieder auf das Vor-Pandemie-Niveau. Das gilt für Frankreich, Belgien, die Schweiz und Schweden. In diesen Ländern ist die Perioden-Lebenserwartung zwar 2020 deutlich eingebrochen. 2021 aber normalisierte sich dort die Sterblichkeit der über 60-jährigen Bevölkerung, ohne dass gleichzeitig die Sterblichkeit der unter 60-Jährigen angestiegen wäre.

Foto: © Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock, Deutschland
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Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropa wieder größer

Während es westeuropäischen Ländern 2021 gelungen ist, sich zumindest der Perioden-Lebenserwartung vor Corona wieder anzunähern, hat sich die Sterblichkeitskrise von 2020 auf 2021 in weiten Teilen Osteuropas verschlimmert. „Besonders deutlich wird das am Beispiel Bulgariens: 2021 lag die Perioden-Lebenserwartung 3,6 Jahre unter dem Niveau vor der Pandemie“, sagt Jonas Schöley. Diesen Lebenserwartungsverlust erklären nicht allein die Sterbefälle der Hochbetagten – mehr als 25 Prozent der gesunkenen Perioden-Lebenserwartung ist auf eine erhöhte Sterblichkeit bei den 40- bis 60-Jährigen zurückzuführen.

„Interessant ist, dass sich die Übersterblichkeit zwischen 2020 und 2021 in Richtung jüngerer Altersgruppen verschoben hat. Durch das Impfen wurden die Älteren langsam geschützt“, sagt Ridhi Kashyap, eine Mitautorin der Studie aus Oxford.

Gleichzeitig hatte Bulgarien bis Herbst 2021 die geringste Impfquote aller untersuchten Länder. Die Impfquote allein erklärt die neuerlichen Ungleichheiten bei der Lebenserwartung zwischen Ost- und Westeuropa allerdings nicht. Sicherlich spielen auch Unterschiede im Gesundheitssystem und allgemeine Lebensumstände eine Rolle.

Bevölkerung unter 60 Jahren bei Pandemiemaßnahmen nicht aus den Augen verlieren

In Deutschland waren die Verluste der Perioden-Lebenserwartung in beiden Pandemiejahren im internationalen Vergleich mit insgesamt 5,7 Monaten moderat. Allerdings stieg der Verlust 2021 mit 3,1 Monaten stärker an als 2020. Nur in Norwegen, erhöhte sich die Perioden-Lebenserwartung, trotz Pandemie, um insgesamt 1,7 Monate.

„Mit unserer Studie wollten wir vor allem herausfinden, ob und wie sich Bevölkerungen von einem Sterblichkeitsschock erholen“, sagt Jonas Schöley. Darauf fand das Team aus Forschenden der Universitäten Oxford, Tallinn und Süddänemark sowie des MPIDR zwei Antworten: Erstens: Die Sterblichkeit in der alten Bevölkerungsgruppe muss sich normalisieren, gleichzeitig dürfen sich aber die Todesfälle nicht in jüngere Altersgruppen verlagern. Zweitens: Wie erwartet, hilft impfen.

Auch in der Vergangenheit ließen Ereignisse wie die beiden Weltkriege und Grippe-Epidemien die Perioden-Lebenserwartung einbrechen. Am stärksten sank sie am Ende des Ersten Weltkriegs und während der Epidemie der Spanischen Grippe im Jahr 1918. Im Gegensatz dazu ist die Perioden-Lebenserwartung während mehrerer saisonaler Grippe-Epidemien des 20. Jahrhunderts nur leicht oder gar nicht gefallen. Insgesamt sind demnach die Lebenserwartungsverluste durch Grippe-Epidemien seit den 1950er-Jahren deutlich kleiner als jene Verluste durch die COVID-19-Pandemie der vergangenen beiden Jahre.

In ihrem historischen Vergleich zeigen die Forschenden zudem, dass auch schwere Verluste in der Perioden-Lebenserwartung wie etwa 1918 von mehr als fünf Jahren in nur wenigen, folgenden Kalenderjahren wieder aufgeholt wurden. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sank außerdem die Häufigkeit der Sterblichkeitsschocks deutlich. Vergangene Krisen haben den Trend zur steigenden Lebenserwartung nur unterbrochen, ihn aber nicht aufgehalten.

„COVID-19 hat weltweit eine der stärksten Sterblichkeitskrisen der vergangenen 100 Jahre ausgelöst. Unsere Daten für das Jahr 2021 zeigen, dass der aktuelle Sterblichkeitsschock höchst ungleich bewältigt wird und die Lebenserwartungsunterschiede zwischen Ost- und Westeuropa vertieft“, sagt Jonas Schöley.

Hintergrund: Was bedeutet Perioden-Lebenserwartung?

Die Perioden-Lebenserwartung zeigt das Sterberisiko, dem eine Bevölkerung innerhalb eines Jahres ausgesetzt war. Steigt das Risiko, in einem Jahr zu sterben, etwa durch eine Hitzewelle oder eben durch eine COVID-19-Infektion, sinkt die Lebenserwartung. Sinkt das Sterberisiko dagegen, etwa durch eine verbesserte Gesundheitsversorgung oder Impfungen, steigt die Lebenserwartung.

„Die Perioden-Lebenserwartung ist als Maß in der Pandemie besonders geeignet, um verschiedene Länder miteinander zu vergleichen“, sagt Jonas Schöley. Denn sie werde nicht von der Altersstruktur und der Größe der Bevölkerung beeinflusst.

„Trotz der Bezeichnung Lebenserwartung lassen sich aus den Werten aber keine Schlussfolgerungen über den Einfluss der Pandemie auf die durchschnittliche Lebensspanne von Kindern, die 2020 oder 2021 geboren wurden, ziehen“, sagt Jonas Schöley. Sie sagt nur darüber etwas aus, wie sich die Lebenserwartung entwickeln würde, wenn die Bedingungen des untersuchten Jahres immer weiter so bestünden.

Verwendete Daten

Die Forschenden nutzten für ihre Studie Daten aus der Short-term Mortality Fluctuations Database (STMF, www.mortality.org) des MPIDR und berechneten zusammen mit Daten des United Nations World Population Prospects die Veränderung in der Perioden-Lebenserwartung.

Aus der COVerAGE Datenbank (www.coverage-db.org) des MPIDR nutzte das Team Daten über registrierte COVID-19 Sterbefälle und Impfungen nach Alter aufgeschlüsselt, um zu zeigen, welchen Anteil COVID-19 als Todesursache an der veränderten Perioden-Lebenserwartung hat und um den Zusammenhang zwischen hoher Impfquote und geringen Lebenserwartungsdefiziten zu zeigen.

Originalpublikation
Schöley, J., Aburto, J.M., Kashnitsky, I., Kniffka, M.S., Zhang, L., Jaadla, H., Dowd, J.B., Kashyap, R.: Life expectancy changes since COVID-19. Nature Human Behaviour (2022). DOI: 10.1038/s41562-022-01450-3

Autoren und Institutionen
Jonas Schöley, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock

José Manuel Aburto, Leverhulme Centre for Demographic Science der Universität Oxford; Nuffield College der Universität Oxford; Universität Süddänemark, Odense

Ilya Kashnitsky, Universität Süddänemark, Odense

Maxi S. Kniffka, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock

Luyin Zhang, Leverhulme Centre for Demographic Science der Universität Oxford

Hannaliis Jaadla, Universität Tallinn; Universität Cambridge

Jennifer B. Dowd, Leverhulme Centre for Demographic Science der Universität Oxford; Nuffield College der Universität Oxford

Ridhi Kashyap, Leverhulme Centre for Demographic Science der Universität Oxford; Nuffield College der Universität Oxford

Aufnahme eines Lazarettes während der Spanischen Gruppe in Europa.  | Foto: © Rawpixel.com/stock.adobe.com
Foto: © Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock, Deutschland
Autor:

Nicole Fuchsbauer aus Nürnberg

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