Heftige Kritik ++ Spekulation mit Weizen
,,Özdemir opfert Artenvielfalt für Getreideanbau"
REGION (pm/dpa/nf) - Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir hat nun doch vier Prozent Artenvielfaltsflächen auf Äckern in 2023 für die Produktion von Getreide freigegeben. Auch die verpflichtende Fruchtfolge für Weizen soll ausgesetzt werden. Die EU-Kommission gab den Mitgliedstaaten Ende Juli diese Möglichkeit. Der bayerische Naturschutzverband LBV stellt klar, dass sich an den Ursachen der Nahrungsknappheit durch das Aussetzen der Regeln für Artenvielfaltsflächen und Fruchtfolge nichts ändern wird.
Özdemir will Bauern ermöglichen, Agrarflächen für den Anbau bestimmter Pflanzen zur Nahrungsmittelproduktion länger zu nutzen. So sollen die eigentlich geplanten zusätzlichen Artenschutzflächen erst 2024 eingeführt werden. Bauern könnten dann im kommenden Jahr auf diesen Flächen weiter Nahrungsmittel anbauen.
Der Präsident des Deutschen Bauernverbands, Joachim Rukwied, begrüßte den Vorschlag. «Diese Entscheidung war überfällig und kommt in letzter Minute.» Die Bauern hätten bereits mit der Anbauplanung für das kommende Jahr begonnen und bräuchten Planungssicherheit. Eine Aussetzung für ein Jahr ist aus Sicht Rukwieds sicher nicht ausreichend. Um weiter eine sichere Lebensmittelversorgung gewährleisten und in Krisenzeiten reagieren zu können, müssten alle Flächen genutzt werden können, auf denen es landwirtschaftlich sinnvoll sei. Die Bundesländer müssten dies jetzt zügig bestätigen.
Bayerns Agrarministerin Michaela Kaniber (CSU) nannte es ,,überfällig, jetzt die Spielräume, die die EU-Kommission eröffnet hat, zu nutzen und so Verantwortung für die Ernährungssicherung zu übernehmen". Die stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Carina Konrad, forderte, die Regelungen schnell und rechtssicher umzusetzen, da die Aussaat bevorstehe. Unions-Fraktionsvize Steffen Bilger (CDU) sagte, Özdemir habe mit seinem parteitaktisch motivierten Zaudern wertvolle Zeit verspielt. Die Regeländerungen sehe er nur als ersten Schritt, sagte Bilger.
Özdemir: Putin ist schuld
Zudem ist die EU den Angaben zufolge Özdemirs Vorschlag gefolgt und lässt eine Ausnahme beim Fruchtfolgenwechsel zu. Die entsprechende Regelung werde 2023 einmalig ausgesetzt. Damit könnten Landwirte in Deutschland auf etwa 380.000 Hektar ausnahmsweise Weizen nach Weizen anbauen. Nach wissenschaftlichen Berechnungen könnten damit bis zu 3,4 Millionen Tonnen Weizen angebaut werden. So gelinge es am besten, «die Getreideerträge in Deutschland stabil zu halten und damit zur Stabilität der Weltmärkte beizutragen», hieß es.
Özdemir sagte, Russlands Präsident Wladimir Putin spiele mit dem Hunger, und er tue dies auf Kosten der Ärmsten in der Welt. Zugleich sei der Hunger bereits dort am größten, wo die Klimakrise schon schwere Folgen habe. «Für mich gilt daher, dass jede Maßnahme zur Lösung einer Krise darauf hin überprüft werden muss, dass sie eine andere nicht verschärft», sagte der Grünen-Politiker. Die Landwirtschaft in Deutschland habe ein Angebot gemacht, durch Beibehalten der Produktion die Getreidemärkte zu beruhigen. Agrarbetriebe wüssten nun, was sie in wenigen Wochen aussäen dürften.
Heftige Kritik an der Entscheidung
Die Umweltschutzorganisation Greenpeace warf Özdemir vor, dem Druck der Agrarlobby nachgegeben zu haben. Die Deutsche Umwelthilfe sieht eine «Torpedierung des Artenschutzes». "Der Hunger auf der Welt ist nicht ein Problem der Menge, sondern der Verteilung. Er wird durch strukturelle Armut verursacht, sodass sich bestimmte Bevölkerungsgruppen Lebensmittel nicht leisten können. Die Welt muss der Spekulation mit Weizen an der Börse ein Ende setzen", sagt der LBV-Vorsitzende Dr. Norbert Schäffer.
Greenpeace-Experte Matthias Lambrecht kritisierte, die ohnehin viel zu geringen Flächen zum Schutz der Artenvielfalt würden so wirtschaftlichen Interessen geopfert. ,,Dabei ist die Ernährungssicherung in Kriegszeiten nur ein Vorwand, um wertvolle Biotope unterzupflügen", sagte er. Dort angebauter Weizen würde erst im nächsten Jahr und in nicht ausreichender Menge zur Verfügung stehen, um der akuten globalen Hungerkrise wirkungsvoll zu begegnen. Mit einem Ausstieg aus dem Biosprit könnte umgehend ein Vielfaches der Getreidemenge bereitgestellt werden. Auch die Umwelthilfe fordert, jegliche Förderung für Agrosprit sofort zu beenden und Flächen für die Lebensmittelproduktion umzuwidmen.
Um Hunger leidende Menschen mit Getreide zu versorgen, braucht das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen vor allem Geld, nach eigenen Angaben 22 Milliarden Dollar im Jahr 2022. "Es ist erschreckend, dass nun auf Kosten der Natur die Produktion wieder gesteigert wird. Die Biodiversitätskrise, die vor allem die Agrarlandschaft betrifft, darf nicht unterschätzt werden. Intakte Lebensräume, gesunde Böden und sauberes Wasser gehen uns alle an", so der LBV-Vorsitzende Dr. Norbert Schäffer. Aus Sicht des LBV werden die Haupthebel zum Erhöhen der verfügbaren Getreidemenge durch diese Entscheidung nicht angefasst.
Teller statt Trog
Allein in Deutschland landen 25 Millionen Tonnen und damit knapp 60 Prozent des Getreides in den Futtertrögen von Schweinen, Rindern und Geflügel. Angesichts dieser Dimension sieht der LBV hier auch global betrachtet den Haupthebel für eine gesicherte Welternährung. "Wenn Getreide direkt in die menschliche Ernährung geht, können davon rund siebenmal so viele Menschen ernährt werden wie über den Umweg der Fleischproduktion", betont der LBV-Landwirtschaftsreferent Matthias Luy.
Laut Özdemir können auf den für die Artenvielfalt reservierten Flächen nur 600.000 bis 1 Million Tonnen Getreide zusätzlich produziert werden. Dies ist nur ein Bruchteil im Vergleich zu dem in Deutschland an Tiere verfütterten Getreide.Der zweite große Hebel setzt bei Biogas und Biosprit an. 14 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche Deutschlands wird für den Anbau von Nutzpflanzen für Biogas und Biotreibstoffe verwendet. Auf einem Teil davon könnte stattdessen Brotgetreide angebaut werden. "Zudem verbrauchen Biogasanlagen 20 bis 40-mal so viel Fläche wie Solaranlagen, die die gleiche Energiemenge erzeugen. Diese Fläche fehlt der Nahrungsmittelerzeugung", so Matthias Luy weiter.
Grüne vor Agrarlobby eingeknickt
„Traurig und beschämend ist die Entscheidung von Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir, die mühsam erkämpften 4 Prozent Ackerbrache unter dem Geschrei der Agrarlobby zu opfern“, urteilt ÖDP-Landesvorsitzende Agnes Becker, die das erfolgreiche Artenschutzvolksbegehren „Rettet die Bienen!“ initiiert hat. „Der Erhalt der Artenvielfalt ist kein Luxus. Insbesondere die Leistungen der Bestäuberinsekten sind Grundlage für eine funktionierende Landwirtschaft. Dafür wären die mühsam erkämpften 4% Ackerbrache ein wichtiger Beitrag gewesen. Angesichts der 11 Millionen Tonnen Lebensmittel, die jährlich im Müll landen und angesichts von 60 % des erzeugten Getreides, das in den Futtertrog gekippt wird, sei die Debatte um 4% Ackerstilllegung eine scheinheilige Diskussion. Wenn man dann noch die 15 % Getreide, die zu Treibstoff verarbeitet werden, hinzurechne und die täglich in Deutschland zubetonierte, überwiegend landwirtschaftliche Fläche von rund 80 Hektar in Betracht ziehe, zeige sich der Irrwitz dieser Diskussion noch deutlicher. „Die Agrarlobby und der Bauernverband versuchen unter dem Eindruck des Krieges die agrarpolitische Rolle rückwärts und mit dem Bundeslandwirtschaftsminister haben sie offenbar kein Gegenüber, der das Artensterben ernst nimmt“, resümiert Becker.
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