Gegen Corona-Lockerungen ++ Long-Covid
Virologe Keppler fürchtet Corona-Durchseuchung
MÜNCHEN (dpa/lby) - Der Münchner Virologe Oliver Keppler hält die bevorstehenden bundesweiten Corona-Lockerungen angesichts der rasant steigenden Infektionszahlen für falsch. «Nach meinem Eindruck haben wir derzeit eine Entkopplung zwischen der tatsächlichen Entwicklung des Infektionsgeschehens und der politischen Diskussion über Lockerungen und einen Freedom Day», sagte der Leiter der Virologie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität der Deutschen Presse-Agentur. «Eine ungebremste Durchseuchung - und so befürchte ich das derzeit - darf jetzt nicht Deutschlands Ziel werden.»
Die politische Diskussion über ein Ende der Pandemie und die Lockerungen birgt nach Einschätzung des Wissenschaftlers die Gefahr, dass in der Bevölkerung sowohl das Bewusstsein für die Gefahren als auch die Impfbereitschaft schwinden. «Wir haben nach wie vor täglich 200 bis 300 Corona-Tote», sagte Keppler. «Bei annähernd neun von zehn ist Covid auch ursächlich für den Tod.» Das «Corona-Vorzeigeland» Dänemark habe in der Omikron-Welle mehr Tote als je zuvor - «und in den USA sind mehr Menschen an einer Infektion mit Omikron als mit der Vorgängervariante Delta gestorben», sagte der Chef des Max von Pettenkofer-Instituts.
«Wir müssen in der gesellschaftlichen Diskussion weg von den Extremen kommen und sollten alle miteinander unseren Frieden mit einer durch die Pandemie veränderten Lebensrealität finden.» Der Wissenschaftler forderte eine kluge Balance «zwischen einer sinnvollen, vielschichtigen und den Risiken angemessenen Infektionsprävention, die vor allem auch die vulnerablen Menschen weiter schützt, und einer neuen Normalität.»
Die Omikron-Variante des Erregers habe zwei wichtige Unterformen, die ursprüngliche BA.1-Form und eine neue, BA.2 genannt. «Diese zweite Form ist noch ansteckender als BA.1 und sicher ein Grund, warum die Infektionszahlen in vielen Ländern derzeit wieder stark ansteigen», sagte Keppler. «In Kombination mit den geplanten weiteren Lockerungen wird das die Infektionszahlen bei uns stark befeuern. Es wird in diesem Sommer länger dauern, bis wir zu niedrigen Inzidenzen kommen, wenn überhaupt.»
Auch wenn dem deutschen Gesundheitswesen derzeit keine Überlastung drohe, so bedeute Covid-19 doch eine chronische Belastung für den Sektor. «Dem gesamten medizinischen Personal müssen wir hierfür mehr Wertschätzung und auch Verständnis in der aktuellen Diskussion entgegenbringen. Masken in öffentlichen Innenräumen, sinnvolles Testen und eine Steigerung der Impfquote sind weiter dringend erforderlich», sagte Keppler.
«Ein Aspekt, der häufig zu kurz kommt, ist Long Covid. Im Mittel vieler Studien leiden fünf bis zehn Prozent der Infizierten über drei Monate hinaus, manche schon seit fast zwei Jahren, an diesem Beschwerdekomplex.» Dazu zählten unter anderem starke Erschöpfung und fehlende Belastbarkeit, schlechte Konzentrationsfähigkeit, Kurzatmigkeit und chronische Kopfschmerzen, oft verbunden mit einer eingeschränkten Arbeitsfähigkeit.
«Bei den derzeitigen Neuinfektionszahlen müssen wir davon ausgehen, dass Long Covid Tag für Tag mehrere Tausend Menschen treffen kann. Für dieses Krankheitsbild haben wir bisher keine kausale Therapie.»
Bei Geimpften mit einer Durchbruchsinfektion sei das Risiko nach ersten Studien wahrscheinlich deutlich geringer, «aber das ist Gegenstand weiterer laufender Studien», sagte Keppler.
Der Virologe hält angesichts erwarteter neuer Virusvarianten die gesunkene Impfbereitschaft für sehr bedenklich. «Einfach formuliert hat die Evolution des neuartigen Coronavirus einen Hauptast mit den bisherigen Varianten Alpha, Beta, Gamma und Delta hervorgebracht. Omikron ist dagegen ein weniger pathogener, aber ansteckenderer Seitenast», sagte Keppler. «Es ist aber wahrscheinlich, dass auch aus dem Hauptast wieder neue «Triebe» hervorkommen.»
Leider hätten die Lockerungsdiskussion und «teilweise auch die Verharmlosung der Omikron-Welle dazu geführt, dass sowohl die Erstimpfungen als auch die Boosterimpfungen kaum noch vorankommen.» Diese seien aber von entscheidender Bedeutung für den Schutz vor schweren Erkrankungen. «Für den kommenden Herbst sollten wir daher vor allem durch eine Impfquote von über 90 Prozent besser auf neue Virusvarianten vorbereitet sein. Auch wenn es schwerfällt: Diese Diskussion sollten wir jetzt führen.»
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