MarktSpiegel Umfrage: Mutmacher oder Provokation?
,,Wir schaffen das": Drei Worte schreiben Geschichte
Von Christoph Driessen, dpa
BERLIN (dpa) - Sie ahnt nichts. Wenn man sich den Ausschnitt aus der Bundespressekonferenz heute noch einmal ansieht, wird das ganz deutlich. Als Angela Merkel am 31. August 2015 «Wir schaffen das» sagt, ist sie sich in keiner Weise bewusst, dass dies ihr bekanntester Satz werden wird. Ein Satz, für den sie bis heute von den einen bewundert und von den anderen verteufelt wird.
Der Soziologe Armin Nassehi von der Universität München hält «Wir schaffen das» für eine Ikone - also ein Bild, das symbolhaft für etwas viel Größeres steht. «Eine Ikone für die Flüchtlingskrise, für die gesamte Amtszeit von Merkel. Aber er wurde nicht als ikonisches Symbol gesprochen. Es wirkt durchaus so, als sei der Satz vorher nicht von ihr geplant gewesen, sondern im Redefluss entstanden. Das macht ihn besonders stark.»
Im Kontext sagte Merkel, passend zum Spätsommertag gekleidet in strahlendes Magenta: «Deutschland ist ein starkes Land. Und das Motiv, in dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das!»
Nüchtern betrachtet ist der Satz eine Banalität. Eine Regierungschefin, die «Wir schaffen das nicht» sagen würde, müsste zurücktreten. Zur großen Provokation für viele Gegner ihrer Flüchtlingspolitik wurde der Satz aber gerade dadurch, dass er von ihr fast wie eine Selbstverständlichkeit vorgebracht wurde. Da wurde das Land - so die Wahrnehmung der Kritiker - von Flüchtlingen geradezu überströmt, und die Staatslenkerin sagte nur, das werde man schon stemmen.
Merkel hätte auch eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede halten können, nach dem Motto: Leute, das wird für uns alle jetzt ganz hart. Stattdessen, so Nassehi, sagte sie im Grunde: «Meine Güte, wir haben doch schon ganz andere Sachen hinbekommen.» Sie wollte die Herausforderung einordnen und dadurch Mut machen.
Allerdings veränderte sich in den darauffolgenden Wochen die Art, wie Merkel den Satz aussprach. «Ich sage wieder und wieder: Wir können das schaffen und wir schaffen das», sagte sie zwei Wochen später am 15. September 2015. Jetzt hörte es sich anders an. Jetzt habe der Satz etwas von einem «Fanfarenstoß» gehabt, etwas Beschwörendes, sagt der niederländische Publizist und Bestsellerautor Geert Mak («In Europa») der Deutschen Presse-Agentur: «Von diesem Moment an wurde Merkels Äußerung als eine der Ursachen der Migrantenwelle wahrgenommen.»
«Wir schaffen das» ist oft mit Barack Obamas Wahlkampf-Slogan «Yes We Can» verglichen worden. «Das ist allerdings eine Pathos-Formel, die wahrscheinlich von mehreren PR-Agenturen erarbeitet worden ist», sagt Nassehi. «Das sieht man dem Satz auch an. Und die Art, wie er von Obama vorgetragen wurde, war auch etwas ganz anderes.» Im Gegensatz zu dem früheren US-Präsidenten ist Angela Merkel keine begnadete Rhetorikerin. «Aber sie sagt in den richtigen Momenten oft die richtigen Sätze», meint Nassehi. «Vielleicht ist das damals der Satz gewesen, auf den alles zulief.»
Aus Sicht des Sprachwissenschaftler Ekkehard Felder von der Universität Heidelberg hat der Satz «etwas Geniales». Dies nicht in dem Sinne, dass er besonders raffiniert wäre. Bis 2015 war der Ansporn «Wir schaffen das!» vor allem Kindergartenkindern und ihren Eltern bekannt - aus dem Titellied der Animationsserie «Bob der Baumeister». «Können wir das schaffen? Yo, wir schaffen das!», wird da gesungen.
Die Genialität des Satzes besteht nach Felders Auffassung darin, dass er eine komplexe Situation verdichtet und dazu einlädt, selber Stellung zu nehmen. «Wenn wir uns an die damalige Situation erinnern, dann war es ja so, dass die einen im positiven Sinne überwältigt waren und die anderen im negativen Sinne. Diese Gefühlslage wird in dem Satz zusammengefasst. Er bietet eine Projektionsfläche, um seine eigene politische Einschätzung deutlich zu machen. Und er lädt ein zur Abwandlung.»
So prägte der AfD-Politiker Alexander Gauland den Gegen-Satz «Wir wollen das gar nicht schaffen». Zudem wurde das Merkel-Zitat immer wieder auch in anderen Kontexten aufgegriffen. Als etwa der britische Premierminister Boris Johnson bei einem Besuch in Berlin seinen Optimismus hinsichtlich der Brexit-Verhandlungen zum Ausdruck bringen wollte, sagte er auf Deutsch: «Wir schaffen das.»
Merkel hat sich 2016 durchaus selbstkritisch mit ihrem Ausspruch auseinandergesetzt: «Manchmal denke ich aber auch, dass dieser Satz etwas überhöht wird, dass zu viel in ihn geheimnist wird. So viel, dass ich ihn am liebsten kaum noch wiederholen mag, ist er doch zu einer Art schlichtem Motto, fast zu einer Leerformel geworden.» Ähnlich äußerte sie sich an diesem Freitag in der Bundespressekonferenz: «Dieser Satz steht für sich, manchmal hat er sich sogar ein bisschen zu sehr verselbstständigt. Aber egal.» Lakonischer geht's kaum.
Felder meint dazu, dass jeder viel zitierte politische Ausspruch irgendwann zur Leerformel werde. Man denke an das bis zum Abwinken wiederholte und abgewandelte «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben». Dass sich solche Sätze aber auch rächen können, zeigt das von Helmut Kohl in den 90er Jahren zahllose Male beschworene Bild von den «blühenden Landschaften» im Osten. Diese Formulierung des Einheitskanzlers wurde mit der Zeit zum Inbegriff eines hohlen Versprechens.
Merkel wäre es mit ihrem Satz vielleicht ähnlich ergangen, wenn sich die Kölner Silvesternacht noch ein paar Mal wiederholt hätte. Heute, fünf Jahre später, sind die Flüchtlinge allerdings nicht mehr das beherrschende Thema. Merkels Satz habe sich als «zukunftsweisend» erwiesen, kommentiert der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki im Domradio. Der niederländische Schriftsteller Geert Mak urteilt: «Die deutsche Bevölkerung hat den Zustrom von fast einer Million Migranten aus einer anderen Kultur - jedenfalls nach aktuellem Stand und soweit ich das übersehen kann - vorbildlich bewältigt.»
Inzwischen ist Deutschland eine Krise weiter. Merkel sagte am Freitag, jede Herausforderung habe ihre eigene Sprache, und deshalb würde sie «Wir schaffen das» in der Corona-Pandemie nicht noch einmal verwenden. Dennoch weist der Satz über das Flüchtlingsthema von 2015 hinaus. «Wenn man ihre Kanzlerschaft unter einem Begriff fassen wollte, dann wäre das wahrscheinlich Pragmatismus», meint Nassehi. «Kein großes Drumherumreden, keine große Programmatik. Der Satz «Wir schaffen das» fasst das zusammen. Wir schaffen das - weil uns auch gar nichts anderes übrig bleibt.»
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