Evangelische Kirche im Missbrauchs-Strudel?
Bei erweiterter Akteneinsicht könnten Fallzahlen explodieren
HANNOVER (dpa) - Die Vorstellung der Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche hat Kritik am Vorgehen und Forderungen nach Konsequenzen hervorgerufen.
«Es ist deutlich geworden, dass es in der evangelischen Kirche mehr noch als in der katholischen Kirche oder etwa im Sport an Strukturen mangelt, um die sexuelle Gewalt aufzuarbeiten», sagte die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, den Partnerzeitungen der Neuen Berliner Redaktionsgesellschaft. Dass dies so lange gedauert habe, sei «vor allem für die Betroffenen bitter». Umso mehr stünden «die Landeskirchen und die Landesverbände der Diakonie in der Verantwortung, jetzt die richtigen Schritte zu unternehmen».
Mindestens 2225 Betroffene und 1259 mutmaßliche Täter hatte eine Untersuchung zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie am Donnerstag für die vergangenen Jahrzehnte dokumentiert. Von der «Spitze der Spitze des Eisbergs» sprach Studienleiter Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover.
Frage nach Entschädigungen
Dabei sei die Frage nach Entschädigungen nicht ausreichend beantwortet, kritisierte Kerstin Claus. «Es darf nicht sein, dass Betroffene selbst Beträge nennen und die Entschädigungen aushandeln sollen. Das muss im landeskirchlichen Kontext geschehen», sagte sie.
Die lange Zeit der Aufarbeitung nannte Claus «vor allem für die Betroffenen bitter.» Im Vergleich zur katholischen Kirche habe man durch das lange Warten acht Jahre verloren. «Umso mehr stehen die Landeskirchen und die Landesverbände der Diakonie in der Verantwortung, jetzt die richtigen Schritte zu unternehmen.»
Die Betroffeneninitiative «Eckiger Tisch» monierte, die Studie werfe «mehr Fragen auf, als sie beantworten kann». In einer Mitteilung hieß es weiter: «Offenbar war die EKD nicht bereit oder in der Lage, umfassenden Zugang zu den Personalakten zu gewähren. Werden wir jetzt weitere Jahre warten müssen, bis die EKD die Missbrauchsfälle in ihren Einrichtungen konkret aufklären lassen wird?»
Auswertung von Disziplinarakten
Die in der Studie ermittelten Fallzahlen basieren auf Akten der Landeskirchen und der Diakonie, außerdem flossen den Landeskirchen und Diakonischen Werken bekannte Fälle ein. Die Wissenschaftler konnten aber nicht alle Personalakten aller Pfarrer und Diakone auswerten, sondern in erster Linie Disziplinarakten.
Auf Grundlage ihrer Methode kamen die Experten auf eine geschätzte Gesamtzahl von 3497 Beschuldigten. Die präsentierten Zahlen würden das Ausmaß aber «deutlich unterschätzen», hatte Wazlawik gesagt und betont, dass «keinerlei Vergleiche» mit der katholischen Kirche oder anderen Institutionen gezogen werden könnten.
Kritik am Umgang mit den Akten
Eine 2018 veröffentlichte Studie zu sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche hatte nach der Auswertung von fast 40.000 Personalakten aus der Zeit zwischen 1945 und 2014 ergeben, dass 1670 katholische Priester und Diakone beschuldigt wurden, denen 3677 Kinder und Jugendliche als Betroffene zugeordnet werden konnten.
Der Kölner Staatsrechtsprofessor Stephan Rixen, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs auf Bundesebene, kritisierte vor allem den Umgang mit den Akten. «Die Auswertung der Personalakten hätte sich mit Sicherheit organisieren lassen, wenn das gewollt gewesen wäre», sagte Rixen der Deutschen Presse-Agentur. Dies zeige die Studie der katholischen Kirche, für die knapp 40.000 Akten ausgewertet wurden. «An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Will es die EKD wirklich wissen?», sagte Rixen.
© dpa-infocom, dpa:240125-99-755326
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