Missbrauch in evangelischer Kirche
1259 Beschuldigte: Nur die Spitze des Eisbergs!

Die Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie dokumentiert mindestens 1259 Beschuldigte.  | Foto: Julian Stratenschulte/dpa
  • Die Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie dokumentiert mindestens 1259 Beschuldigte.
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HANNOVER (dpa) - Eine Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie hat für die vergangenen Jahrzehnte mindestens 1259 Beschuldigte dokumentiert. Die vorgestellte Untersuchung unabhängiger Wissenschaftler spricht von der «Spitze des Eisbergs».

Die ermittelten Fallzahlen von 2225 Betroffenen basieren auf Akten der Landeskirchen und der Diakonie, außerdem flossen den Landeskirchen und diakonischen Werken bekannte Fälle ein. Die Wissenschaftler kommen auf Grundlage ihrer Methode auf eine geschätzte Gesamtzahl von 3497 Beschuldigten.

Schmerzensgeldzahlungen können beantragt werden

Die EKD hatte die Studie 2020 initiiert. Ziel war, evangelische Strukturen zu analysieren, die Gewalt und Machtmissbrauch begünstigen. Die Wissenschaftler konnten nicht die Personalakten aller Pfarrer und Diakone auswerten, sondern in erster Linie Disziplinarakten. Die Studie wurde mit 3,6 Millionen Euro finanziert. Als Dachorganisation von 20 Landeskirchen vertritt die EKD bundesweit 19,2 Millionen evangelische Christinnen und Christen.

Betroffene sexualisierter Gewalt können bislang einen Antrag auf individuelle freiwillige Leistungen stellen. Diese orientieren sich laut EKD an Schmerzensgeldzahlungen und liegen in der Regel zwischen 5000 und 50.000 Euro. Bis Ende 2022 hatten die Landeskirchen der EKD 858 Anträge auf derartige Anerkennungsleistungen gemeldet.

Betroffene: Brauchen Hilfe vom Staat

Bei der Vorstellung der Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie haben Betroffene angemahnt, die Aufarbeitung von Fällen und Strukturen noch stärker voranzutreiben - auch mithilfe des Staates. «Wir brauchen hier eine Verantwortungsübernahme des Staates. Denn es zeigt sich immer wieder, die Kirche ist für die Betroffene kein Gegenüber», sagte Katharina Kracht, Vertreterin der Betroffenen und Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes, am Donnerstag bei der Vorstellung der Studie in Hannover. Es brauche externe Fachleute und Beschwerdestellen.

Aufarbeitung sei die Königsdisziplin, betonte Kracht. Aus ihrer Sicht fehle in den Landeskirchen aber Kompetenz und vermutlich auch Interesse, Fälle tatsächlich aufzudecken. «Wenn solche Nachforschungen nicht unternommen werden, bleiben Täter unentdeckt.»

Die Studie komme zwar spät, sie sei aber wichtig für die Betroffenen, da diese in die Untersuchung einbezogen worden seien, sagte Kracht. Sie bemängelte, dass die evangelische Kirche längst hätte handeln können. Die Studie könne daher nur ein Anfang sein. «Wenn die EKD sich jetzt wieder in die Hinterzimmer zurückziehen will, bis zur Synode, ist das eine derbe Enttäuschung für die vielen Betroffenen.» Es dürfe nicht noch mehr Zeit vertrödelt werden. «Es ist genug, es ist schon lange genug.»

Sie selbst habe in ihrem Fall jahrelang auf Aufklärung warten müssen. Kracht war in den in den 1980er und 1990er Jahren von einem evangelischen Pastor im niedersächsischen Nenndorf bei Hamburg schwer sexuell missbraucht wurde. Wie sich erst spät herausstellte, hatte der 2013 gestorbene Pfarrer sowohl in Nenndorf als auch in seiner vorigen Kirchengemeinde in Wolfsburg weitere Mädchen missbraucht.

«Keinerlei Vergleiche» mit der katholischen Kirche möglich

Die Fallzahlen sind nicht direkt vergleichbar mit den Ergebnissen einer Studie zu sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche, die 2018 veröffentlicht wurde. Nach der Auswertung von fast 40.000 Personalakten aus der Zeit zwischen 1945 und 2014 wurden 1670 katholische Priester und Diakone beschuldigt, denen 3677 Kinder und Jugendliche als Betroffene zugeordnet werden konnten. Damals betonten die Wissenschaftler, dass die Zahl «eine untere Schätzgröße» sei.

Es könnten «keinerlei Vergleiche» mit der katholischen Kirche oder anderen Institutionen gezogen werden, sagte nun Studienleiter Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover. «Die Zahlen legen in keiner Weise eine geringere Zahl an Beschuldigten in der evangelischen Kirche und Diakonie nahe.»

Die Forum-Studie nahm alle Beschäftigten im evangelischen Leben in den Blick, auch Heimerzieher, Kirchenmusiker oder ehrenamtliche Jugendleiter. Erwartet wird, dass sich weitere Betroffene melden.

Autor:

Nicole Fuchsbauer aus Nürnberg

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