Corona-Impfpflicht ++ 4. Welle ++ Verfassungsrecht
Fragen und Antworten zur 4. Corona-Welle
BERLIN (dpa) - Vor einem Jahr schrieb Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in den sozialen Medien: «Es wird keine Corona-Impfpflicht geben.» Man setze auf Freiwilligkeit und Vernunft. Angesichts der prekären Situation debattiert Deutschland nun aber doch über eine solche Pflicht. Ein Überblick.
Warum wird der Ruf danach immer lauter?
Weil der relativ hohe Anteil an Ungeimpften nach einhelliger Ansicht von Wissenschaft und Politik der Grund für die vierte Corona-Welle ist - und eine fünfte Welle droht. Kliniken in Bayern, Sachsen, Thüringen und in Ballungsräumen sind bereits überlastet.
«Mindestens 90 Prozent der Menschen in diesem Land müssen eine Immunität haben, um das vernünftig kontrollieren zu können», erläuterte der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, vor einigen Tagen. Aktuell haben 68 Prozent der Gesamtbevölkerung die Grundimmunisierung durch die Impfung (doppelt geimpft).
Was hält die Wissenschaft von der Pflicht?
«Es ist wirklich niemand, der gerne eine Impfpflicht haben möchte», sagte RKI-Präsident Wieler im ZDF. «Aber wenn man alles andere versucht hat, dann sagt die WHO: Dann muss man auch über eine Impfpflicht nachdenken.»
Die Weltgesundheitsorganisation hatte im April ein Papier dazu veröffentlicht. Darin betont sie, dass die Politik den Nutzen der Impfung vermitteln müsse, um Akzeptanz und Freiwilligkeit zu fördern. Eine allgemeine Impfpflicht müsse ethisch sorgfältig abgewogen werden - und könne nur das letzte Mittel sein.
Wäre eine allgemeine Impfpflicht verfassungsrechtlich möglich?
Ja. Der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz dafür, und Verfassungsrechtler sehen sie als rechtlich möglich an. Die Zuständigkeit des Bundes ergibt sich aus Artikel 74 Grundgesetz (GG). Demnach kann er Gesetze für Maßnahmen gegen «gemeingefährliche und übertragbare Krankheiten» erlassen.
«Eine solche allgemeine Impfpflicht ist durchaus vertretbar - und zwar, um das Leben anderer Menschen zu schützen», sagte der Staatsrechtler Ulrich Battis von der Berliner Humboldt-Universität der «Neuen Osnabrücker Zeitung» am Dienstag. Er verwies auf Artikel 2 GG, der das Recht auf Leben festlegt. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit habe dahinter zurückzutreten, so Battis.
Allerdings gibt es auch Stimmen, die mildere Maßnahmen für noch nicht ausgeschöpft und eine allgemeine Impfpflicht derzeit für unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig halten.
Wie ist der Stand in der politischen Debatte?
Eine einrichtungsbezogene Impfpflicht wird wohl kommen - also für Beschäftigte und Besucher etwa in Pflegeheimen. Auch für Kliniken und Kitas ist sie im Gespräch. Noch vor Weihnachten solle es so eine Impfpflicht geben, meint SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese.
Die von der bisherigen Bundesregierung vertretene Ablehnung einer allgemeinen Impfpflicht wird immer brüchiger. Mehrere Unions-Ministerpräsidenten sowie Baden-Württembergs Grünen-Regierungschef Winfried Kretschmann befürworten sie inzwischen.
Der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hält die derzeitige Debatte indes für nicht zielführend. «Sie löst unser akutes aktuelles Problem nicht», sagte er im Deutschlandfunk. «Wir brechen diese Welle ja nicht mit einer verpflichtenden Impfung.» Denn die Wirkung käme viel zu spät.
Wie würde eine Impfpflicht praktisch umgesetzt werden?
Darauf hat bislang kaum jemand Antworten. Im Gegenteil. Es gebe offene Fragen bei der Durchsetzung einer solchen Maßnahme, so Spahn. Klar ist: Es geht um eine Pflicht - und keinen Zwang. Für Impfverweigerer seien ein Bußgeld oder gesetzliche Regelungen zum Verlust des Krankenversicherungsschutzes denkbar, sagte der Bielefelder Rechtsprofessor Franz C. Mayer dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Auch Ministerpräsident Kretschmann hält ein Bußgeld für möglich. Niemand werde im Gefängnis landen oder von der Polizei zum Impfen abgeholt.
Welche Effekte kann eine Impfpflicht auf bisher Ungeimpfte haben?
Sie könnte die Haltung von Impfgegnern eher ändern, meint der Marburger Sozialpsychologe Ulrich Wagner. Ein Teil der Bevölkerung habe sich in dem Selbstverständnis eingemauert, sich nicht impfen zu lassen. In dieser «Blase» werde diese Meinung ständig bekräftigt und verstärkt. Eine Impfpflicht brächte ein neues Argument ins Spiel - sowohl für die eigene Überzeugung als auch gegenüber der Gruppe. «Der äußere Zwang wäre eine Entschuldigung.»
Der Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, Andreas Zick, sieht dagegen die Gefahr einer weiteren Radikalisierung der Minderheit der Impfgegner - und gleichzeitig ein schwindendes Verständnis für diese.
Es gebe ein Milieu, das sich «von gar keinen Argumenten mehr überzeugen lässt», sagte er dem TV-Sender Phoenix. Man wisse noch nicht genau, inwieweit diese radikalen Gruppen einen neuen Extremismus bildeten. Durch die Radikalisierung und mangelnde Bereitschaft zur Einsicht sänken die Solidaritätswerte für diese Menschen im Rest der Gesellschaft, so Zick.
Was, wenn es keine allgemeine Impfpflicht gibt?
Jeder wird immun werden - wer sich gegen eine Impfung entscheidet, «wird sich unweigerlich infizieren». Das sagte der Virologe Christian Drosten bereits im Mai. Doch würden damit wohl hohe Kranken- und Totenzahlen einhergehen.
Außerdem ist nach Angaben Wielers mit einer fünften Welle zu rechnen, «wenn das Verringern der Kontakte und das Impfen nicht intensiv gelingt». Charité-Infektionsimmunologe Leif Erik Sander sagt: «Wir bekommen Normalität nur durch Immunität - und das nur durch flächendeckende Impfung.»
Wie sieht es mit der Masern-Impfpflicht aus?
Diese gilt seit 1. März 2020 für bestimmte Gruppen. Bei Neueintritt in Kita oder Schule müssen die Eltern nachweisen, dass der Nachwuchs geimpft oder bereits immun ist. Kitas dürfen ungeimpfte Kinder nicht aufnehmen. Schulen dürfen Kinder nicht ausschließen, es können jedoch Bußgelder bis zu 2500 Euro gegen die Eltern verhängt werden.
Die Masern-Impfpflicht gilt auch für Erzieherinnen, Lehrer und Tagesmütter, wenn sie nach 1970 geboren wurden; Ältere werden als immun eingestuft. Vor Einführung der Impfpflicht waren laut RKI bei den Schuleingangsuntersuchungen 97 Prozent einmal und 93 Prozent doppelt gegen Masern geimpft.
Gab es auch schon andere Pflichtimpfungen?
Ja. In der Bundesrepublik bestand eine Impfpflicht für Diphtherie und teilweise Scharlach (bis 1954) sowie eine für Pocken. Letztere wurde bis 1983 schrittweise aufgehoben. Bei ihr musste im Deutschen Kaiserreich der Impfschein bei der Einschulung vorgelegt werden.
In der DDR waren im Laufe der Zeit verschiedene Impfungen für Kinder und Jugendliche verpflichtend, etwa gegen Tuberkulose, Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten sowie Masern. Kinder konnten Krippen oder Kitas nur besuchen, wenn sie alle Pflichtimpfungen bekommen hatten. Auch fürs Studium oder bestimmte Berufe musste man diese nachweisen.
Von Alexandra Stober, Basil Wegener und Sandra Trauner
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