Radikal-islamistischer Hintergrund
Messerattacke im ICE: 14 Jahre Haft, Verteidiger wollen die Revision
MÜNCHEN (dpa) - Am Morgen des 6. November 2021 ist es ruhig in Waggon 5 des ICE 928 von Passau nach Nürnberg. Ein junger Mann ist mit seiner Freundin unterwegs zu ihrer Familie. Plötzlich vernimmt er hinter sich ein Rascheln, dann spürt er einen heftigen Schlag auf seinem Kopf. Der fremde Angreifer versetzt ihm mit einem Messer zahlreiche Stiche in den Kopf-, Hals- und Brustbereich. Drei weitere Reisende greift der inzwischen 28 Jahre alte Mann mit dem Messer an. Alle überleben den Angriff, teils mit schweren Verletzungen. Nun hat das Oberlandesgericht München den Täter wegen dreifachen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung zu 14 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil ist bislang nicht rechtskräftig.
Das Gericht ging von den Mordmerkmalen der niedrigen Beweggründe und der Heimtücke aus. Der objektive Sachverhalt sei unstrittig, sagte der Vorsitzende Richter Jochen Bösl am Freitag. Im Zentrum der zweimonatigen Verhandlung standen die Fragen nach Motiv und psychischem Zustand des Angeklagten.
Ebenso wie die Bundesanwaltschaft geht das Gericht von einem radikal-islamistischen Hintergrund der Tat aus. Zudem kamen es zu dem Entschluss, der Mann sei nicht psychisch krank, wie es seine Verteidiger in den Raum gestellt hatten. Sein Anwalt Maximilian Bär hatte in seinem Plädoyer vergangene Woche noch einmal betont: «Unser Mandant ist krank, unser Mandant muss behandelt werden und unser Mandant ist kein Terrorist.»
Der 28-Jährige leide an einer paranoiden Schizophrenie, sagt die Verteidigung. Er habe sich durch die Polizei beobachtet und verfolgt gefühlt, so auch an dem Morgen der Tat. An die Geschehnisse erinnern könne er sich nicht mehr. Die Verteidigung hielt den laut Ermittlern in Syrien aufgewachsenen, palästinensischen Volkszugehörigen für schuldunfähig und hatte daher für einen Freispruch und eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus plädiert.
Bei den Aussagen des Mannes zu seiner psychischen Gesundheit habe es «eine ganze Reihe Widersprüche und Ungereimtheiten» gegeben, sagte der Richter Bösl am Freitag. «Da kann man ihm keinen Glauben schenken.» Drei psychiatrische Gutachter waren im Prozess auch zu dem Ergebnis gekommen, der Mann sei nicht psychisch krank, sondern simuliere dies nur.
Die Bundesanwaltschaft und Vertreter der Opfer, die im Prozess als Nebenkläger auftraten, hatten sich dieser Einschätzung angeschlossen und eine lebenslange Haftstrafe gefordert. Der Mann habe die Tat «im Zustand voller Schuldfähigkeit» begangen und damit seinen Beitrag zum weltweiten Dschihad leisten wollen, sagte Bundesanwältin Silke Ritzert vergangene Woche in ihrem Plädoyer.
Die Tat brannte sich bei den Opfern und Zeugen ein und belastet sie teils bis heute. Einige müssen in psychiatrische Behandlung, sie können seither keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr nutzen und meiden Menschenansammlungen.
In der Urteilsbegründung sagte der Vorsitzende Richter, eine lebenslange Haft habe auch für das Gericht im Raum gestanden. Die Forderung der Bundesanwaltschaft sei nicht fernliegend gewesen und auch diskutiert worden. Am Ende sei es eine Frage der Gewichtung gewesen. Dabei habe vor allem eine Rolle gespielt, dass zwar eine «hohe abstrakte Lebensgefahr» aber keine «konkrete Lebensgefahr» bei den Opfern bestanden habe.
Dass der Angeklagte in «keinerlei islamistische Netzwerke eingebunden» war, sah das Gericht nicht als Gegenbeleg eines islamistischen Tathintergrunds. Einzeltäter träten immer wieder auch ohne Verbindung zum IS oder anderen islamistischen Gruppierungen auf.
Laut Verfassungsschutz wurden die islamistischen Anschläge, die es in den vergangenen Jahren in Deutschland gab, alle von selbst radikalisierten Einzeltätern verübt. Das seien teils Flüchtlinge gewesen, teils aber auch in Deutschland aufgewachsene Menschen.
«In vielen dieser Fälle ist nicht auszuschließen, dass es auch psychische Auffälligkeiten gab», sagte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz vergangene Woche der Deutschen Presse-Agentur. Neben Islamisten, die aus Haftanstalten entlassen würden, sei dies eine «Personengruppe, die uns auch zukünftig Sorge bereiten muss». Denn diese Menschen seien meist nicht organisiert, kommunizierten oft wenig und böten daher wenig Anhaltspunkte für die Sicherheitsbehörden, frühzeitig einzuschreiten.
Im Prozess um den Messerangriff ist das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen. Die Verteidiger kündigten an, in Revision gehen zu wollen. Sie sehen nach wie vor eine Schuldunfähigkeit ihres Mandanten.
Von Jacqueline Melcher, dpa
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.