Telemedizin in Deutschland: Bleibt das Wachstum auch nach der Pandemie?
In den vergangenen Monaten dürften sich viele Lebensbereiche des Alltags – und für manche wohl auch der Lebensmittelpunkt – zunehmend ins Digitale verlagert haben. Ein Blick auf die Digitalisierung der Medizin zeigt dabei nicht nur große Potenziale, sondern wirft auch Fragen über zukünftige Entwicklungen auf.
Digital-Medizin erst seit 2018 möglich
Der tatsächliche Start der Telemedizin in Deutschland liegt gar nicht so weit zurück: Erst im Mai 2018 wurden die Einschränkungen für ärztliche Fernbehandlungen vom Deutschen Ärztetag gelockert, wodurch die grundsätzliche Basis dafür geschaffen wurde, dass zukünftig nicht nur die Beratung aus der Ferne, sondern auch das Stellen von Diagnosen und – in mittel-ferner Zukunft – das Ausstellen sogenannter “E-Rezepte” möglich wird. Alles, ohne vorher im persönlichen Kontakt mit dem Patienten gewesen zu sein.
Die grundlegende Idee: Ärztliche Behandlungen endlich ins Digitale zu heben und damit beispielsweise dem problematischen Ärztemangel in vielen ländlicheren Regionen entgegenzuwirken. Gleichzeitig geht es darum, Arztbesuche effektiver zu gestalten: Patienten erhalten einen festen Online-Termin (Sprechstunden von 10 bis 30 Minuten), den sie per Videotelefonat vom heimischen Laptop, Tablet oder Handy wahrnehmen können. So sollen Patientenstau und stundenlanges Zeit absitzen im Wartezimmer der Vergangenheit angehören und Husten, Schnupfen, Heiserkeit kein Grund mehr dafür sein, persönlich beim Arzt vorstellig werden zu müssen.
Holpriger Start statt schnellem Fortschritt
Die Chancen hinter diesen neuen Möglichkeiten haben allen voran junge Gründer und Start-ups aus dem “Digital Health”-Bereich erkannt. Ein Beispiel das zeigt, wie Telemedizin sinnvoll genutzt werden kann: Das Start-up Formelskin hat eine Online-Sprechstunde für Dermatologie entwickelt – Patienten können sich von zu Hause zu Themen wie Akne oder Hautunreinheiten beraten lassen und bekommen direkt eine individualisierte Behandlung verschrieben. So lässt sich die Behandlung nicht nur wesentlich effektiver gestalten, sondern auch Aspekte wie Scham spielen plötzlich keine große Rolle mehr.
Mit der Medizin im Allgemeinen verhielt es sich aber leider, wie es mit Deutschland und der Digitalisierung so häufig läuft: Auch wenn sich viele Ärzte schnell bereit zeigten, die digitalen Sprechstunden mit in ihr Angebot aufzunehmen, gab es erwartungsgemäß auch eine ganze Reihe von Hindernissen. Im Mittelpunkt standen dabei vor allem ungeklärte Honorar- bzw. Abrechnungsfragen und das leidige Thema Internetanbindung. Denn auch das beste Digitalangebot nützt nur wenig, wenn es die Menschen, für die es ursprünglich gedacht war, aufgrund mangelnder Internetgeschwindigkeit nicht wirklich nutzen können.
Auch die Thematik “Kassenpatienten vs. Privatpatienten” wurde einmal mehr zum Stopper des Fortschritts: Ärzte konnten generell nur Rezepte ausstellen oder Honorar abrechnen, wenn die Versichertenkarte des Patienten zuvor in der Praxis eingelesen wurden. Das bedeutet zwangsläufig, dass zumindest immer ein erster Besuch in der Praxis nötig war, damit zukünftige Beratungen in digitaler Form erfolgen konnten. Zusätzlich konnten die Telemedizin-Angebote zu dieser Zeit nur von Privatpatienten und denjenigen, die zu einer Zusatzzahlung (ca. 20 bis 45 €) bereit waren, genutzt werden – entsprechende Richtlinien für die Abrechnung von Kassenpatienten zu entwickeln, wurde lange Zeit aufgeschoben.
Corona-Pandemie als Digitalisierungs-Antreiber
Dass die noch junge Telemedizin in Deutschland letztendlich doch so früh auf den Prüfstand gestellt werden würde, hätten wohl weder Patienten noch Ärzte und Krankenkassen erwartet. Neue Statistiken zum rasanten Wachstum der Branche findet man seit Ausbruch der Corona-Pandemie beinahe wöchentlich – möglich wurde dieser Aufschwung aber erst durch eine neue Richtlinienänderung, die im November 2019 verabschiedet wurden. Erst seit diesem Zeitpunkt haben Ärzte die Möglichkeit, ihre Online-Sprechstunden aktiv auf der eigenen Website zu bewerben und neue Patienten auf rein digitalem Weg aufzunehmen. Zusätzlich wurde die Honorarabrechnung – vorläufig nur für den Pandemie-Zeitraum – so angepasst, dass unbegrenzt viele Videosprechstunden abgerechnet werden dürfen. Zuvor war nur jede fünfte abgerechnete Sprechstunde digital möglich.
Die digitale Sprechstunde als effektiver Schutz vor Ansteckung könnte bei Patienten und Ärzten gleichermaßen ein neues Verständnis für eine digitalisierte Medizin schaffen und so könnte beispielsweise die grundsätzliche Möglichkeit, auf Wunsch auf eine Online-Sprechstunde zurückzugreifen, zukünftig zu einem wichtigen Entscheidungskriterium bei der Wahl der Arztpraxis machen. Die Frage, die bleibt: Überdauert die neu gewonnene Begeisterung die aktuelle, krisenbedingte Nachfrage?
Zeit nach Corona – welche Zukunft steht der Telemedizin bevor?
Wo sich Experten weitestgehend einig sind: Langfristiges Potenzial hat die Telemedizin in Deutschland vor allem dann, wenn sie nicht mehr als Ersatz für konventionelle Behandlungen, sondern als sinnvolles Zusatzangebot verstanden wird. Damit dieses Verständnis überhaupt aufgebaut werden kann, muss nicht nur das entsprechende Angebot vorhanden sein, sondern auch die Akzeptanz seitens der Patienten gesteigert werden.
Mit Blick auf das Angebot lässt sich positiv erwähnen, dass die Digitalisierung der Medizin in Deutschland längst nicht mehr so stiefmütterlich behandelt wird, wie noch vor einigen Jahren. Das liegt vor allem daran, dass sie nun in Bereiche einfließt, die den tatsächlichen Alltag vieler Menschen betreffen: Krankschreibungen sind mittlerweile per Videosprechstunde möglich und auch das digitale E-Rezept dürfte 2021 endlich Realität (und zukünftig sogar verpflichtend) werden.
Zusätzlich zum gegebenen Angebot müssen natürlich auch die Patienten selbst ihren Teil dazu beitragen, diese neue Branche voranzutreiben. Aktuell werden digitale Sprechstunden vor allem von Menschen mit einer großen digitalen Affinität genutzt – bis der Wunschfall eintreten kann, dass dieses Angebot in allen Senioren- und Pflegeheimen ankommt, wird es also zwangsläufig noch einige Jahre dauern. Damit aus diesen Jahren nicht Jahrzehnte werden, muss zwangsläufig auch der flächendeckende Ausbau von schnellen Internetanbindungen vorangetrieben werden. Erst wenn die Online-Sprechstunde wirklich als alternative Quelle für seriöse, individuelle Informationen angesehen wird, kann die Skepsis zurückgehen und die generelle Akzeptanz steigen.
Was ebenfalls wichtig ist, um diese Akzeptanz zu steigern: Es müssen umfassendere Regelungen für die Abrechnung geschaffen werden. Aktuell ist es nach wie vor so, dass eine Beratung ohne zusätzliche Behandlung von den Krankenkassen nicht übernommen wird – wer sich dennoch online beraten lassen will, zahlt dementsprechend weiterhin einen Betrag von bis zu 40 € zusätzlich.
Vielleicht verhält es sich mit der Telemedizin nach Corona wie mit dem Arbeiten aus dem Home-Office: Während die einen nie warm damit werden, hat der Zwang während der Pandemie sowohl Patienten als auch Ärzten gezeigt, dass Dinge auch – und manchmal sogar besser – ohne den direkten Kontakt funktionieren können.
Autor:Jenny Reichenbacher aus Nürnberg |
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