Macht Streikhammer Deutschland-Ticket platt?
Bei der Deutschen Bahn könnte es bald wieder Streik geben
FULDA/BERLIN (dpa/vs) - Wer öfters mit Zügen in Deutschland unterwegs ist, kennt vielleicht den Satz frustrierter Reisender, dass die Bahn eines der wenigen Unternehmen sei, bei dem es auch ohne Streik zu regelmäßigen Zugausfällen und Verspätungen komme. Ausrechnet im Vorfeld des lange erwarteten 49-Euro-Tickets, das mehr Menschen Lust auf den öffentlichen Nahverkehr machen soll, packen die Gewerkschaften den Streik-Hammer aus.
Von Christine Schultze und Fabian Nitschmann, dpa
Warnstreiks bei der Post, in Kitas und an Flughäfen - und bald auch bei der Deutschen Bahn? Zum Start der Tarifverhandlungen für die rund 180.000 Beschäftigten wachsen die Sorgen vor möglichen Warnstreiks mit Verspätungen und Zugausfällen für Pendler und Bahn-Reisende.
Die Gewerkschaft EVG und die Deutsche Bahn sowie 50 weitere Branchenunternehmen verhandeln in Fulda über neue Tarifverträge. Erwartet wird ein hartes Ringen mit Eskalationspotenzial. Angesichts von Inflation, Energiekrise und Personalmangel verlangt die EVG kräftige Einkommenserhöhungen und will schon in der ersten Runde ein Angebot von dem Konzern sehen. Dass die Deutsche Bahn eines vorlegt, ist unwahrscheinlich.
Welche Forderungen stellt die EVG?
Mindestens 650 Euro will die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft für die rund 180.000 Beschäftigten durchsetzen. Die unteren Einkommensgruppen sollen überproportional gestärkt werden, daher hat sich die Gewerkschaft für eine Forderung mit Festbetrag entschieden.
Bei den höheren Entgelten will die Gewerkschaft eigenen Angaben zufolge eine Steigerung um zwölf Prozent erreichen. Für die Nachwuchskräfte fordert die EVG 325 Euro. Die Laufzeit soll zwölf Monate betragen. Nach EVG-Einschätzung profitierten gut 90 Prozent der Beschäftigten eher von einer Erhöhung um 650 Euro, nur für die oberen rund zehn Prozent ist die prozentuale Forderung relevant.
Es ist die bisher höchste prozentuale Forderung der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft und auch für die beiden Gewerkschaften Transnet und GDBA, aus deren Zusammenschluss die EVG 2010 hervorgegangen war. Wie für die Deutsche Bahn soll sie auch für alle anderen Unternehmen gelten, für die die EVG verhandelt.
Wie begründet die Gewerkschaft ihre Forderungen?
Eine historisch hohe Inflation und gestiegene Energiepreise, die die Einkommen der Beschäftigten deutlich schmälern, die Folgen der Pandemie mit Maskenkontrollen und zahlreichen Krankheitsfällen, zunehmende Übergriffe auf Bahnmitarbeiter - aus EVG-Sicht müssen die Beschäftigten immer höhere Belastungen schultern und haben sich deshalb einen deutlichen Einkommenszuschlag verdient. Sonst drohe eine weitere Abwanderung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, mahnte EVG-Tarifvorstand Kristian Loroch kürzlich in Fulda.
Beim Thema Fachkräfte steuere man in eine «Totalkatastrophe» - und das, obwohl die Bahn in diesem Jahr unter dem Strich eigentlich 9000 Beschäftigte hinzugewinnen will.
Wie hat die Deutsche Bahn reagiert?
Die Bahn betonte zuletzt ebenfalls, dass sie mit sehr schwierigen Tarifgesprächen rechne. Die Gewerkschaft habe 57 Forderungen gestellt, die im Schnitt 25 Prozent mehr Lohn für die Beschäftigten bedeuteten, hieß es am Freitag aus Kreisen des Konzerns. Neben mehr Geld seien auch zahlreiche strukturelle Themen aufgeworfen worden, etwa Höhergruppierungen und Neueingruppierungen oder eine Angleichung regionalisierter Tarifverträge auf das jeweils höchste Niveau. Insgesamt handele es sich um einen hochkomplexen Forderungskatalog.
Im Schnitt bedeute allein die Lohnforderung eine Steigerung von 18 Prozent, in einzelnen Bereichen um mehr als 30 Prozent, hieß es aus DB-Kreisen. «Wir setzen auf Verhandlungen, aber unsere Spielräume sind begrenzt», sagte Fernverkehrsvorstand Michael Peterson dem «Tagesspiegel».
Die nicht-bundeseigenen Bahnunternehmen hätten derweil mit einem Aufruf zur Mäßigung auf die Forderungen reagiert und das Argument der Inflation abgewiegelt, verlautete aus Gewerkschaftskreisen. Man sehe sich an Verträge gebunden, die Steigerungen in dieser Höhe nicht vorsähen und die man nicht bezahlen könne. Die Gewerkschaft will dies nicht gelten lassen - dann müssten die Unternehmen eben auf die Aufgabenträger zugehen und diese in die Pflicht nehmen, hieß es.
Wann könnte es zu Warnstreiks kommen?
Die EVG hat bereits zum Beschluss ihrer Tarifforderungen deutlich gemacht, dass sie Aktionen schon früh in Betracht zieht. Auch am Montag rief sie die Deutsche Bahn erneut zu einem Angebot und zu konkreten Gesprächen über ihre Forderungen bereits in der ersten Runde auf. «Das ist unsere Erwartungshaltung, dass wir in die Inhalte tatsächlich einsteigen mit einem Angebot», sagte EVG-Verhandlungsführerin Cosima Ingenschay.
«Wenn das nicht passiert, dann gucken wir uns an, wie das bei den anderen Unternehmen aussieht, und dann werden wir einen Strich drunter setzen und eben entscheiden, wie wir die Lage einschätzen, ob das schon einen Warnstreik zum Beispiel notwendig macht oder nicht», sagte Ingenschay. Dabei könnte sich die EVG auch mit der Gewerkschaft Verdi abstimmen, die derzeit unter anderem in Tarifverhandlungen für die rund 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst beim Bund und den Kommunen steht.
Vor welchen Herausforderungen steht die Deutsche Bahn?
Das bundeseigene Unternehmen transportiert immer mehr Menschen auf einem Streckennetz, das viele Jahre vernachlässigt wurde - und inzwischen sehr anfällig ist. Für die Fahrgäste am deutlichsten wird das derzeit in der Pünktlichkeit, die im Fernverkehr 2022 bei gerade 65 Prozent lag. Der Sanierungsbedarf ist riesig und soll in den kommenden Jahren mit Generalsanierungen auf besonders wichtigen Strecken angegangen werden - was viel Geld kosten wird.
Die DB-Vertreter werden also absehbar darauf setzen, dass nicht auch noch die Personalkosten durch einen allzu hohen Tarifabschluss in die Höhe springen. Aus Sicht der Gewerkschaft lassen sich Personal- und Infrastrukturkosten aber nicht miteinander vermischen. So kämen die Gelder für die Sanierung aus anderen Töpfen, etwa vom Bund.
Klar ist, dass die Bahn attraktiv bleiben muss für neue Mitarbeiter angesichts des Fachkräftemangels. «Die Mitarbeiter haben einen tollen Job gemacht, wir sind gut miteinander durch die Krise gekommen. Da ist von unserer Seite klar, dass wir das auch anerkennen wollen», sagte Personalvorstand Seiler im Januar. «Wir müssen da eine gute Balance finden zwischen kurzfristiger Anerkennung und dem, was wir auch langfristig leisten können, ohne dass wir die Mobilitätswende in irgendeiner Form belasten.»
Warum will die EVG mit so vielen Unternehmen gleichzeitig verhandeln und wie soll das ablaufen?
Nach eigenen Angaben will die EVG für einheitliche Tarifbedingungen in der Branche sorgen und dafür auch die größere Schlagkraft durch die Bündelung von Forderung und Verhandlungen nutzen. Das dürften die Unternehmen, aber auch die Fahrgäste nicht zuletzt bei möglichen Arbeitskampfmaßnahmen zu spüren bekommen.
Die Gewerkschaft erwartet, dass die kleineren Bahnunternehmen dem Branchenführer DB AG folgen. «Gemeinsam geht mehr», lautet dazu passend das Motto der Tarifrunde. Nach dem Start mit der DB am 28. Februar soll mit jedem einzelnen der anderen rund 50 Branchenunternehmen gesprochen werden - was voraussichtlich bis Ende März dauern wird, bevor es in die zweite Runde geht.
Wie steht es um die zweite Bahner-Gewerkschaft, die GDL?
Die Lokführergewerkschaft mit ihrem Bundesvorsitzenden Claus Weselsky wird im Herbst mit der Bahn in Tarifverhandlungen gehen. Die GDL ist deutlich schwächer innerhalb der DB vertreten als die EVG, hat sich in der Vergangenheit aber immer wieder als sehr streikbereit präsentiert. Streiks der GDL wurden öffentlich zuletzt als wirksamer und dramatischer für die Fahrgäste wahrgenommen.
Der Grund: Ohne Lokführer kann keine Bahn fahren. Sollte sich die EVG zu Warnstreiks entscheiden, könnte die Durchschlagskraft aber sogar deutlich höher sein, da je nach Ausmaß dann entscheidende Posten in der Infrastruktur, etwa in einem Stellwerk, betroffen sein könnten.
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