Hochschwanger auf der Flucht aus der Ukraine
Lebenswege: Aus Charkiw geflohen - in Fürth geboren
Von Nicole Fuchsbauer (Text) und Oksana Dolgirev (Übersetzung)
CHARKIW/FÜRTH - So haben sich Daria und Ihor Holterov aus Charkiw den Start ins Leben ihrer kleinen Tochter Xenia sicher nicht vorgestellt. Das Kriegsgeschehen in der Ukraine hat exemplarisch für viele auch diese Familie völlig überrannt. Ihre riskante Flucht aus Nürnbergs Partnerstadt Charkiw - Daria hochschwanger, mit der 6-jährigen Tochter Zlatoslava und Ehemann Ihor - hat alles abverlangt. Doch ein Schutzengel wartete bereits und ebnete den Weg: Cousine Oksana Dolgirev bot einen sicheren Hafen in Fürth.
Der Weg aus der Ukraine nach Franken sollte steinig werden. Groß die Angst, das Baby könnte irgendwo unterwegs oder in einem Keller zur Welt kommen! Jetzt hat die Familie dem MarktSpiegel exklusiv erzählt, wie sie es dennoch allesamt gesund geschafft haben - das Glück trotz aller Dramatik stets auf ihrer Seite.
Es war der 24. Februar 2022 als Daria Holterova von einer Explosion aus dem Schlaf gerissen wird. Das jetzt Krieg in der Ukraine herrscht, hat die Familie aus vielen Nachrichten aus dem Freundeskreis erfahren.
Ihor Holterov reagiert schnell, um seine schwangere Frau und die kleine Tochter zu schützen. Rasch wird das Nötigste zusammengepackt: Pässe, Dokumente, Geld. Die Entscheidung Charkiw zu verlassen steht - doch wohin? Die Straßen waren zu diesem Zeitpunkt schon völlig verstopft, enorme Schlangen bei den Tankstellen, die Menschen in Panik.
Ein Freund bietet erste Hilfe. Er wohnt mit seiner Familie außerhalb der Stadt im Dorf Bezruki und lädt die Holterovs ein zu kommen. Doch schon am Abend war klar - hier ist es nicht sicher! Explosionen erschüttern auch hier den Ort. Die nächsten acht Tage verbringt die Familie mit den anderen Leuten im Keller - im Haus gibt es keinen Strom, die Heizung funktioniert nicht mehr. In der Eiskälte im Februar.
Nach diesen acht Tagen im Keller war klar, man wird Charkiw und die ganze Region verlassen müssen. Niemand glaubt, dass der Krieg schnell enden wird - in den Nachbardörfern haben die Kampfhandlungen bereits begonnen. In dem Bewusstsein, dass eine längere Flucht bevorsteht, wagt sich die Familie noch einmal nach Charkiw in die eigene Wohnung zurück. Der Weg dorthin brandgefährlich. Überall Militärkontrollen und Straßensperren, Explosionen erschüttern die Stadt. Viele Gebäude sind zerstört, überall verbrannte, zerschossene Fahrzeuge. Plötzlich Rauch hinten am Auto, der Schreck, das Auto wäre getroffen worden. Doch die Reise hat erst begonnen.
Immer in der Angst, die Geburt der kleinen Xenia steht unmittelbar bevor, war das nächste Ziel die Westukraine: 1.100 Kilometer, vier Tage mit dem Auto unterwegs auf mit Flüchtlingen überfüllten Straßen. Größtes Problem: Das Benzin an den Tankstellen ist rationiert - pro Auto 20 Liter - zu horrenden Preisen. Die Hoffnung, hier in der Westukraine bleiben zu können, zerschlägt sich schnell. Die Sirenen warnen vor Luftangriffen - alle müssen in die Bunker und Schutzkeller.
Jetzt erkennen Daria und Ihor in ihrer Situation gibt es nur noch eine Möglichkeit, sie müssen das Land verlassen. Doch: Zu diesem Zeitpunkt durften ukrainische Männer zwischen 18 - 60 Jahren nicht mehr ausreisen. Für Daria ist klar, ohne ihren Mann wird sie auch nicht gehen. Mutig wagen sie sich trotzdem voran, denn es gibt eine Gesetzeslücke: Männer, die drei Kinder haben (Ihor hat noch zwei Kinder aus erster Ehe), dürfen ausreisen. Eigentlich. An der ukrainischen Grenze angekommen, versuchten Grenzsoldaten alle möglichen Gründe zu finden, dass Ihor nicht gehen kann. Die Familie riskiert es immer wieder an anderen Grenzstellen und hat schließlich Erfolg. Knapp drei Wochen nach Kriegsbeginn verlassen sie ihr Land. Auf der ganzen Flucht haben sie nur ukrainische Soldaten gesehen - kein einziges Mal russische Truppen.
Cousine Oksana Dolgirev bietet Zuflucht in Fürth an. Der Weg führt über Rumänien, Ungarn und Österreich. Doch kurz vor der Grenze nach Deutschland gibt der Wagen den Geist auf. Oksanas Mann Maxim springt ohne Zögern ins Auto und holt Daria, Ihor und Töchterchen Zlatoslava ab - nach weiteren 24 Stunden kommen sie endlich in Franken an.
Hier werden sie vorerst bei ihrer Cousine wohnen. Sie unterstützt nach Leibeskräften bei Ämterangelegenheiten, klärt, regelt und übersetzt - schließlich kann das Baby jeden Moment kommen. Ein großes Lob geht an die Stadt Fürth und die Beratungsstelle für Schwangerschaftsfragen im Sozialrathaus. Die Mitarbeiterin dort hilft schnell, dass Daria unbürokratisch von der Frauenärztin untersucht werden kann. Oksana Dolgirev erzählt: ,,Nach der Kontrolluntersuchung steht fest, meine Cousine muss sofort ins Fürther Krankenhaus. Es gibt Probleme, der Herzschlag des Babys ist nicht mehr zu hören - die Ärzte entscheiden, dass Kind sofort zu holen. Es war sehr streßig für uns alle." Pflegepersonal und Ärzte machen der traumatisierten Daria den Aufenthalt so angenehm wie möglich. Viele Mitarbeiter sprechen Englisch, wenn nicht, hat Cousine Oksana am Telefon übersetzt.
Die kleine Xenia kam am 6. April 2022 auf die Welt. Eine geborene Fürtherin. 52 Zentimeter groß, 3990 Gramm schwer. Ausblick: Zunächst wollen Daria und Ihor für sich und ihre Kinder eine Wohnung finden, die Sprache lernen. Ihor sucht bereits fleißig nach einem Job - er ist von Beruf Bauingenieur, Daria ist Englisch-Lehrerin. Die 6-jährige Zlatoslava wird erst einmal in Fürth zur Schule gehen.
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