Energiepreis-Explosion: Politik unter Zugzwang
Auch Gewerkschaft Verdi droht Protestaktionen an
BERLIN (dpa/vs) - Das könnte ein "heißer" Herbst und Winter 2022/2023 in Deutschland werden: Nach den Parteien Linke und der AfD hat jetzt auch die Gewerkschaft Verdi kurz vor den entscheidenden Beratungen der Bundesregierung angekündigt, massive Proteste auf die Straßen zu tragen, wenn die Politik angesichts der drohenden Energiepreis-Explosion nicht weitgehende Maßnahmen beschließe, um Geringverdiener und einkommensschwache Haushalte zu entlasten.
«Um die finanziellen Härten durch die Energiepreis-Explosion auszugleichen, muss der Staat noch einmal 20 bis 30 Milliarden Euro in diesem Jahr zusätzlich in die Hand nehmen», sagte Verdi-Chef Frank Werneke der «Augsburger Allgemeinen». Verdi bereite mit anderen Gewerkschaften und Sozialverbänden auch Demonstrationen im Laufe des Herbstes vor. «Die werden dann notwendig, wenn die Bundesregierung die Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend entlastet.»
Auch Linke und AfD in den Startlöchern
Auch Linke und AfD haben angekündigt, Proteste zu organisieren. Sollte es im Winter zusätzlich zu den rapide gestiegenen Preisen für Gas und Strom tatsächlich zu einem Energiemangel kommen, sehen manche deshalb gesellschaftliche Verwerfungen auf Deutschland zukommen. Auslöser der Preissteigerungen war zwar der Überfall Russlands auf die Ukraine - der Rückhalt für die Ukraine könne aber bröckeln, wird befürchtet, und auch der für die deutsche Regierung. Die Koalition will sich deshalb mit Entlastungen dagegen stemmen.
Der Zeitplan
Der Bundestag berät ab Dienstag über den Haushalt für 2023, vorher soll Klarheit herrschen. «Wir werden diese Woche ein drittes Entlastungspaket beschließen», sagte Grünen-Chefin Ricarda Lang am Abend in der ZDF-Sendung «Maybrit Illner». Die Entscheidung soll in einer Sitzung des Koalitionsausschusses fallen, dem Kanzler Olaf Scholz (SPD), Vizekanzler Robert Habeck (Grüne), Finanzminister Lindner und die Fraktions- wie Parteispitzen der drei Ampel-Partner angehören. Ein konkreter Termin war zunächst noch nicht bekannt.
Die Ideen
Die Regierung ist sich nach Scholz' Worten «einig, etwas für diejenigen tun zu wollen, die wenig Geld verdienen». «Wir wollen das Wohngeld so reformieren, dass mehr Leute davon profitieren, und Hartz IV werden wir zu Beginn des kommenden Jahres durch das neue Bürgergeld ersetzen», bekräftigte er in der «Westdeutschen Allgemeinen Zeitung». «Und wir werden etwas für Rentnerinnen, Rentner und Studierende tun und für viele die Steuern senken.»
Einigkeit beim Schuldenmachen
Die Grüne Jugend forderte einen Energiepreisdeckel, eine Übergewinnsteuer, Direktzahlungen und eine Weiterführung des 9-Euro-Tickets. «Die Ampel muss einen echten Rettungsschirm für die Menschen schaffen, denn die Zeit drängt», sagte die Co-Chefin der Grünen-Nachwuchsorganisation, Sarah-Lee Heinrich, der Deutschen Presse-Agentur. Die Bundesregierung müsse Taten folgen lassen und Finanzminister Christian Lindner (FDP) den Sparkurs aufgeben, verlangte Heinrich. «Die Aussetzung der Schuldenbremse 2023 ist notwendig.» Auch Verdi-Chef Werneke forderte dies. Die Schuldenbremse setzt der Neuverschuldung des Bundes enge Grenzen.
Nach Einschätzung führender Steuerschätzer kann die Koalition das dritte Entlastungspaket vor allem mit zusätzlichen Steuereinnahmen finanzieren. Der Bund habe von Januar bis Juli 16 Prozent mehr Steuern als im Vorjahr eingenommen und liege damit um sechs Prozentpunkte höher als bisher erwartet, sagte Nils Boysen-Hogrefe vom Kieler Institut für Weltwirtschaft der Düsseldorfer «Rheinischen Post». Allein bei der Umsatzsteuer seien im ersten Halbjahr 29 Milliarden Euro mehr als im Vorjahr. Allerdings lasse sich die gute Entwicklung im zweiten Halbjahr nicht einfach fortschreiben.
Für die Steuerschätzerin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Kristina van Deuverden, deutet sich an, dass viele Unternehmen ihre Gewinnerwartungen wegen Corona zu weit nach unten korrigiert hatten und nun Steuern nachzahlen. Ihr Kollege Max Lay vom Münchner Ifo-Institut wies in der Zeitung darauf hin, dass im ersten Halbjahr wegen auslaufender Corona-Hilfen die Staatsausgaben nicht so stark gestiegen sind, woraus sich Spielraum ergeben könne.
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.