Kommt jetzt der "Wut-Winter"?
Experten wagen eine erste Prognose für die nächsten Monate
LEIPZIG/BERLIN (dpa/vs) - Rekordinflation und Explosion bei den Energiepreisen: Im Sommer haben Politiker und Experten vor einem "Wutherbst" mit Massendemonstrationen und Ausschreitungen vor allem in den östlichen Bundesländern gewarnt. In rund vier Wochen ist der kalendarische Herbst zu Ende, Zeit für eine Zwischenbilanz.
Von Birgit Zimmermann, Jörg Schurig und Verena Schmitt-Roschmann, dpa
Vorläufiger Höhepunkt war der Tag der Deutschen Einheit. Am 3. Oktober gingen allein in Ostdeutschland mehr als 100.000 Menschen gegen hohe Energiepreise, Inflation und die Krisenpolitik der Bundesregierung auf die Straße. Seitdem scheint dem von rechts und links angefachten «heißen Herbst» langsam die Puste auszugehen.
Zwar werden wohl auch an diesem Montag wieder an vielen Orten Menschen protestieren. Doch gehen die Teilnehmerzahlen zurück. In Schwerin wurden montägliche Demos ganz abgesagt, mangels Masse.
Sicher ist: Die von Außenministerin Annalena Baerbock befürchteten «Volksaufstände» sind bisher ausgeblieben. Nach der Ankündigung des milliardenschweren «Doppelwumms» gegen hohe Gas- und Strompreise scheint die Stimmung im Land etwas ruhiger. Wie geht es weiter mit der Protestwelle? Das hänge unter anderem davon ab, ob die Entlastung bei Bürgern mit wenig Geld ankomme, sagt der sächsische Verfassungsschutzpräsident Dirk-Martin Christian der Deutschen Presse-Agentur. Auch der Greifswalder Politologe Marcel Lewandowsky meint: «Für eine Einschätzung ist es einfach zu früh.»
«Das dicke Ende kommt zum Schluss»
Unter dem Stichwort «heißer Herbst» hatten sowohl die AfD als auch die Linke mobilisiert, wenn auch nicht gemeinsam. Vor allem in Berlin und ostdeutschen Städten wie Leipzig, Magdeburg, Gera oder Plauen fand das Widerhall. Beide Seiten sprechen von Erfolgen. «Unter dem Motto unserer Kampagne 'Unser Land zuerst!' folgten beispielsweise rund 10.000 Menschen aus ganz Deutschland unserem Aufruf, in Berlin gegen die desaströse Politik der Ampel-Koalition zu demonstrieren», resümiert AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla. Seine Kollegin Alice Weidel ist sicher, die AfD-Forderungen setzten die «Ampel-Koalition unter Druck, im Sinne der deutschen Bürger zu handeln».
Auch Linkenchef Martin Schirdewan sagt: «Unser Druck hat gewirkt - die Bundesregierung hat sich bewegen müssen.» Einige Forderungen der Linken seien im Entlastungsprogramm der Ampel aufgegriffen worden, etwa Gas- und Strompreisdeckel. «Aber ob das am Ende reicht, damit die Leute gut durch den Winter kommen, ist offen. Das dicke Ende kommt zum Schluss.» Die angekündigten Hilfspakete seien eine «Beruhigungspille», die womöglich nicht ewig wirke, meint Schirdewan.
Gerade scheinen viele die Zukunft aber etwas weniger düster zu sehen. «Ich glaube tatsächlich, dass die Entlastungsmaßnahmen und die vollen Speicher die Sorgen der Menschen etwas reduziert haben», sagt Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD). Der sächsische SPD-Chef Henning Homann lobt ebenfalls: «Die politische Debatte hat sich durch das Handeln der Bundesregierung entspannt.» Beide erwarten dennoch, dass die Rechte weiter zu Protesten anstacheln wird. «Diese Attacken können wir nicht abstellen - egal wie gut unsere Politik ist», meint Homann.
Zwei Ansätze des Protests
Es gebe zwei unterschiedliche Ansätze des Protests, analysiert Politikwissenschaftler Lewandowsky. «Einer ist organisiert durch linke Gruppen und Gewerkschaften und richtet sich konkret auf die Problematik der hohen Lebenshaltungskosten», erläutert der Forscher. «Die andere Schiene geht nur vordergründig in dieselbe Richtung, nämlich gegen hohe Energiepreise. Doch sind da auch prorussische, rechtspopulistische und verschwörungsideologische Untertöne, wie wir sie seit den Corona-Protesten ab 2020 kennen. Diese Proteste nutzen eigentlich nur einen neuen Anlass, um dasselbe zu vertreten.»
Mit anderen Worten: Einigen Gruppen scheint es fast egal, woran der Protest sich gerade aufhängt und wie die Politik reagiert. Thüringens Verfassungsschutzpräsident Stephan Kramer beschrieb es bei einer Berliner Konferenz am Freitag so: «Während es am Anfang um die Flüchtlingsfragen ging 2015, Euro eine Rolle spielte, also Währungsfragen, kam dann ganz schnell die Frage: Wie sieht es jetzt aus mit der Pandemie? Wir haben dann ein bisschen Wetten laufen gehabt, dass als nächstes die 'Klimadiktatur' kommen würde. Da konnte noch niemand ahnen, dass auf einmal der russische Angriffskrieg vor der Tür steht. Aber den hat man sich auch ganz schnell unter den Nagel gerissen und instrumentalisiert.»
Sein sächsischer Kollege Christian sieht das ähnlich. «Es gehört zur langfristigen Strategie der Rechtsextremisten, mit ihren Themen in der Mitte der Gesellschaft anschlussfähig zu werden und damit eine Entgrenzung zu erreichen», erklärt der Landesverfassungsschutzchef der dpa. Auffallend sei, dass Gruppen wie die rechtsextremen Freien Sachsen sich inzwischen wieder mehr auf die Agitation gegen Geflüchtete konzentrierten - womöglich weil «die Mobilisierungsfähigkeit bei den Themen Energiekrise, Ukrainekonflikt und Inflation zu stagnieren scheint». Das Protestgeschehen in Sachsen habe «zumindest vorläufig ein Plateau erreicht».
Trotzdem werden die Aktionen wohl nicht aufhören, erwartet der Leipziger Kultursoziologe Alexander Leistner. «Wir haben eine ähnliche Situation wie schon bei den kontinuierlichen Corona-Protestszenen: Ein harter Kern an Demonstrierenden bleibt sehr regelmäßig auf der Straße.» Das sei unabhängig von der Tagespolitik und der aktuellen Preisentwicklung.
Kommt ein «Wutwinter»?
Könnte aus dem eher nicht so «heißen Herbst» doch noch ein «Wutwinter» werden? Leistner schließt das nicht aus. Zum einen würden Kostenbelastungen der Bürger erst verzögert sichtbar. Zum anderen hätten Proteste oft eine Eigendynamik. Auch der Verlauf des Kriegs in der Ukraine und mögliche neue Fluchtbewegungen könnten eine Rolle spielen.
Sachsens Verfassungsschutzchef Christian sagt es so: «Bei einer Zuspitzung der geopolitischen und wirtschaftlichen Lage muss mit einer Polarisierung und Radikalisierung des Protestgeschehens gerechnet werden. Extremisten werden in einer solchen Situation nichts unversucht lassen, um mit ihren Desinformationskampagnen und Narrativen apokalyptische Endszenarien heraufzubeschwören.»
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