Südamerika im freien Fall
Mandelas Nachfolger haben das Land systematisch heruntergewirtschaftet
Von Kristin Palitza, dpa
PRETORIA (dpa) - Nationalheld, Ikone, Friedensnobelpreisträger. Vor zehn Jahren (5. Dezember 2013) starb Südafrikas ehemaliger Präsident Nelson Mandela. Knapp 30 Jahre ist es her, dass Tata Madiba, wie ihn die Südafrikaner liebevoll nennen, sein Land von der rassistischen Unterdrückung durch das Apartheid-Regime befreite und in die Demokratie führte. Die Welt feierte mit Südafrika, voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Als erster demokratisch gewählter Präsident Südafrikas gründete Mandela die Regenbogennation mit der Vision eines Rechtsstaats, mit Chancengleichheit als Grundlage einer inklusiven Gesellschaft. Er wollte solide Bildung für alle, gute Gesundheitsversorgung und anständige Jobs. Das nationale Interesse sollte über allem stehen.
Doch vom Erbe des ehemaligen Freiheitskämpfers ist heute kaum etwas übrig. «Wenn Mandela heute hier wäre, wäre er schwer über die gegenwärtige Situation im Land enttäuscht», sagt Soziologe Roger Southall von der Witwatersrand-Universität in Johannesburg. «Er würde sagen, die Regierung sei vom Weg abgekommen.»
Ende der Regenbogen-Vision
Mandelas Partei, der Afrikanische Nationalkongress (ANC), der seit 1994 mit absoluter Mehrheit regiert, hat das Land mit seinen 62 Millionen Einwohnern über drei Jahrzehnte systematisch heruntergewirtschaftet. Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität steigen stetig. Das Bildungs- und das Gesundheitssystem bröckeln. Die Regierung ist von Korruption, Vetternwirtschaft und Inkompetenz zerfressen. Staatseigene Betriebe gehen bankrott. Auch ein immer größer werdendes Haushaltsdefizit trägt zur Wirtschaftskrise bei.
«Mandelas Traum steckt in einer tiefen Krise. Seine Vorstellungen von einer nicht-rassistischen Gesellschaft, die für alle sorgt und niemanden zurücklässt, sind gescheitert. Wir haben auf allen Ebenen Rückschritte gemacht», sagt William Gumede, der Vorsitzende der Democracy Works-Stiftung. Das zeige beispielsweise die hohe Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 60 Prozent.
Mandela war fünf Jahre Präsident. 1999 stellte er sich freiwillig nicht zur Wiederwahl, um für Parteikollegen Platz zu machen. Er war ein Demokrat mit Leib und Seele. Rückblickend zweifeln Südafrikaner das als Fehlentscheidung an. Denn mit Mandelas Abtritt ging es politisch und wirtschaftlich bergab.
Nachfolger Thabo Mbeki leugnete, dass das Immunschwächevirus HIV der Erreger der Aids-Erkrankung sei und ließ in Südafrika keine Aids-Medikamente zu. Laut einer Harvard-Studie starben aufgrund dessen geschätzt 330.000 Südafrikaner, etwa 35.000 Babys wurden vermeidbar mit HIV geboren.
Nach Mbeki kam Jacob Zuma (2009-2018), dessen Name synonym mit dem Begriff «state capture», der Ausbeutung des Staats durch Machtmissbrauch, wurde. Zuma stand in vergangenen Jahren immer wieder vor Gericht. Dem 81-Jährigen werden Korruption, Geldwäsche und Betrug in Milliardenhöhe vorgeworfen. Ihm drohen bis zu 25 Jahre Haft. Der Prozess gegen Zuma wurde bis heute jedoch immer wieder vertagt.
Systematische Untergrabung des Staats
Als Cyril Ramaphosa 2018 die Präsidentschaft übernahm, war die Hoffnung zunächst groß, dass der 71-Jährige in die Fußstapfen Mandelas treten und Fehler des ANC wiedergutmachen würde. Doch schnell stellte sich heraus, dass es dem reformorientierten Ramaphosa im mächtigen ANC-Gefüge an Entscheidungsstärke fehlt. Auch er konnte der Selbstbereicherung innerhalb der Partei kein Ende setzen.
In seinem Buch «After Dawn» (Nach Sonnenaufgang) beschreibt der ehemalige Vize-Finanzminister Mcebisi Jonas (2014-2016) Südafrika als Land, das von der Regierungselite systematisch zerstört wird: «Es werden weiter politische Renten extrahiert, die Korruption grassiert, die Funktionsfähigkeit und Legitimität des Staates nehmen weiter ab, das Vertrauen der Investoren und damit das Investitionsvolumen schwinden, die Wirtschaft stagniert, die Arbeitslosigkeit steigt, und mit der Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen steigen auch die sozialen Spannungen immer weiter an.» Statt inklusives Wirtschaftswachstum zu fördern, suche die Regierungspartei ihr Heil im Populismus, schreibt Jonas.
Auch Jakkie Cilliers, politischer Analyst des Instituts für Sicherheitsstudien in der Hauptstadt Pretoria, stimmt dem zu: «Der ANC hat dem Land erheblichen Schaden zugefügt. Es ist eine Tragödie. Südafrika befindet sich in einer tiefen Krise».
Südafrikas größtes Problem ist nicht mehr Schwarz gegen Weiß, sondern die wachsende wirtschaftliche Ungerechtigkeit. Nach Angaben der Weltbank ist es das Land mit der weltweit größten Schere zwischen Arm und Reich. Zu den Wohlhabendsten des Landes gehören die «Black Diamonds», millionenschwere schwarze Unternehmer und Politiker. Andererseits sind von der hohen Jugendarbeitslosigkeit wiederum hauptsächlich Schwarze betroffen.
Mandela bleibt Ass im Ärmel
Bislang haben sich Frust und Enttäuschung der Südafrikaner kaum im Wahlergebnis niedergeschlagen. Seit 1994 regiert der ANC mit absoluter Mehrheit. Bei den Wahlen Mitte 2024 könnte sich das ändern. Zwar dürfte der ANC weiter regieren, müsste voraussichtlich aber erstmals Koalitionen mit kleineren Parteien schließen, so Analysten.
Südafrikanern sei es bisher schwergefallen, die Arbeit der Befreiungspartei realistisch einzuschätzen. «Der ANC ist nicht in der Lage, die Vision Mandelas umzusetzen. Je länger der ANC an der Macht ist, desto mehr zerstört er Mandelas Erbe», sagt Gumede. «Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass die Opposition Mandelas Vision übernimmt.»
Trotzdem bleibt Mandela das Ass im Ärmel. Im Land selbst, aber auch auf internationaler Ebene, zehrt die Regierung bis heute vom nahezu unantastbaren Image des Vaters der Nation. Geschickt werde Mandela als Vorzeigeobjekt aus der Schublade geholt, wann immer es nützlich sei, etwa um Investoren zu beeindrucken, erklärt Southall.
Obwohl in Südafrika alle politischen Indikatoren auf Rot stehen, treffe man sich weiter «auf Augenhöhe» und drücke dazu noch viele Augen zu. Es ist, als wolle die Welt verzweifelt am Glauben festhalten, dass Südafrika das fortschrittlichste Land des Kontinents sei, das Aushängeschild Afrikas, dass es politischen Willen gibt zu Reform und Innovation. «In Wahrheit werden Mandelas Ideale aber schon lange nicht mehr berücksichtigt», sagt Southall.
Dabei hat Südafrika so viel Potenzial: Reich an Diamanten, Gold, Platin, Mangan und Uran verfügt das Land über enorme Wachstumsmöglichkeiten. Der Privatsektor ist robust, ebenso das institutionelle System. «Leider will der ANC nicht in echte Wachstumstreiber wie gute Infrastruktur, Bildung und Gesundheitsversorgung investieren, um eine innovative, anreizorientierte Bevölkerung zu schaffen», sagt Cilliers.
Da bleibt nur eins: Die Hoffnung, dass aus dem ANC in naher Zukunft nochmal ein Mandela hervorgeht - oder zumindest ein ambitionierter Politiker, der das Wohl des Volkes über Eigeninteressen stellt.
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