Welches "Wut-Thema" kommt 2023?
Verfassungsschutz macht sich Gedanken
BERLIN (dpa/vs) - Klimakrise, Corona-Pandemie, Rekord-Inflation: Es gibt immer nachvollziehbare Gründe, warum Menschen in Deutschland aus Protest auf die Straße gehen. Sorge bereiten dem Verfassungsschutz dabei jedoch die sogenannten Wutbürger mit Sympathien für extremes Gedankengut und die auch vor Gewalt nicht zurückschrecken. Wie ist es 2022 gelaufen, und welches "Wut-Thema" könnte das nächste Jahr dominieren?
Die Proteste gegen hohe Energiepreise und die Krisenpolitik der Bundesregierung sind in den letzten Wochen des Jahres abgeebbt. Der Verfassungsschutz rechnet zu Beginn des neuen Jahres damit, dass die Zuwanderung als Mobilisierungsthema im rechten Spektrum wieder stärker an Bedeutung gewinnen wird.
«Die schlimmen Szenarien von einem "heißen Herbst" oder "Wutwinter", wie sie von vielen skizziert wurden, habe ich so nicht kommen sehen», sagte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, der Deutschen Presse-Agentur. Tatsächlich sei «das, was aktuell an Protesten läuft, eher ein laues Lüftchen». Er fügte hinzu: «Das weht hauptsächlich in Sachsen und Thüringen»; doch auch in diesen beiden Bundesländern seien die Teilnehmerzahlen rückläufig.
Bürgerliches Milieu zieht sich zurück
Festzustellen sei auch, dass sich das bürgerliche Milieu, das bei den Corona-Protesten noch stark vertreten gewesen sei, mehr und mehr zurückziehe. «Aktuell tummelt sich da eine Mischung aus Rechtsextremisten, wie Vertretern der Neuen Rechten, Verschwörungstheoretikern, "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern", Delegitimierern, aber auch Teilen des Landesverbandes der AfD in Thüringen, der als erwiesen extremistisch eingestuft ist oder rechtsextremistischen Parteien wie die Freien Sachsen.»
Eine Abgrenzung der einzelnen Gruppen voneinander sei kaum noch vorhanden. Der Verfassungsschutz hatte 2021 einen neuen Phänomenbereich «Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates» definiert.
Die verbindende Klammer all dieser Gruppen sei «das Ziel, dieses politische System zu überwinden», sagte Haldenwang. Die zur Mobilisierung genutzten Themen würden dabei offensichtlich «nach Gusto ausgetauscht», je nachdem, was gerade funktioniere. «Aktuell gewinnt das Thema Migration stärker an Gewicht», sagte der Präsident des Bundesamtes.
Anstieg der Asylanträge
In den ersten elf Monaten dieses Jahres wurde für rund 190.000 Menschen erstmals in Deutschland ein Asylantrag gestellt, ein Anstieg von rund 43 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Da als Folge des russischen Angriffskrieges seit dem 24. Februar rund eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen wurden, gibt es in einigen Kommunen Engpässe bei der Unterbringung. Stärker in den Fokus gerückt war das Thema Migration zudem durch mehrere Reformvorhaben der Bundesregierung, etwa zum sogenannten Chancen-Aufenthaltsrecht.
Im September und in der ersten Oktober-Hälfte hatten sich teilweise mehrere Tausend Teilnehmer zu Demonstrationen versammelt, bei denen teilweise auch gegen die Russland-Sanktionen und gegen Waffen-Lieferungen an die Ukraine protestiert wurde. Sowohl die Linke als auch die AfD hatten als Reaktion auf hohe Energie- und Lebensmittelpreise zu einem "«heißen Herbst» aufgerufen. Den größten Widerhall fand dies in Ostdeutschland. An einer von der AfD beworbenen Kundgebung in Berlin im Oktober beteiligten sich laut Polizei rund 10.000 Menschen.
Letzte Generation «zahlenmäßig kleine Gruppe»
Die Klimaproteste bieten auch Sicht des Verfassungsschutz-Präsidenten bislang keinen Anlass für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz. «Wenn man auf Fridays For Future schaut, dann ist das sicher die zahlenmäßig größte Bewegung; ihre Protestaktionen verlaufen friedlich und bewegen sich auf dem Boden der Legalität», sagte Haldenwang.
Mit Blick auf die Aktionen der Letzten Generation ergänzte er: «Die Letzte Generation ist eine zahlenmäßig kleine Gruppe, die jetzt zu drastischeren Methoden des Protests greift.» Die Gruppe begehe inzwischen auch schwere Straftaten, wie Blockaden auf Flughäfen. Diese müssten von Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten verfolgt und geahndet werden.
Klimaschutz sei jedoch ein legitimes Anliegen, betonte Haldenwang. Er sagte: «Nicht nur wir, sondern auch die Landesämter für Verfassungsschutz sehen bei der Letzten Generation aktuell noch keine hinreichend gewichtigen tatsächlichen Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung.» Der Verfassungsschutz komme erst ins Spiel, wenn es eine Radikalisierung oder eine Beeinflussung der Proteste durch Extremisten gebe. Was die Letzte Generation angehe, so sehe er eine gewisse Gefahr darin, «dass es linksextremistische Gruppierungen gibt, die versuchen, diese Bewegung zu unterwandern».
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.